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Märchenhafte Heimat

Schwerstbehinderte Kinder und junge Erwachsene leben im Zwerg Nase Zentrum in Wiesbaden, einer in Deutschland einzigartigen Einrichtung. Bei unserem Besuch schildert die Geschäftsführerin Sabine Schenk, wie es ihr und ihrem Team gelingt, ein Pflegeheim in ein Zuhause verwandeln. Und erklärt, warum dabei auch Einhörner, Lichterketten und Glitzernagellack wichtige Rollen spielen.

Der Vormittag ist kalt und grau, doch Kevins Zimmer ist in warmes Abendlicht getaucht: Rote Vorhänge und der rote Bodenbelag lassen das Weiß der Wände und Decke in Orangetönen schimmern, vergolden das Holz des Gitterbettchens und färben das weiße Laken kirschblütenrosa. Es ist mit einer Herde von Einhörnern in Regenbogenfarben gemustert. Zwischen ihnen liegt Kevin auf dem Rücken.

Über ihm baumeln Girlanden und ein Mobile mit Häschen aus Plüsch. Er hat den Kopf zur Seite gedreht, zu einem Spielzeugspiegel, gerahmt von einer Lichterkette aus roten, gelben, grünen Kugeln. Kevin scheint in den Anblick seines Gesichts vertieft, in die Pausbäckchen, die Stupsnase, den Mund, der sich entspannt zur Schnute wölbt, in den dichten braunen Schopf.

Er liegt abgewandt vom Holzregal neben dem Bett. Darin stehen die Maschinen, kaum größer als Schuhkartons, die ihn beatmen, ihn ernähren, sein Blut reinigen. Monitore blinken und piepen. Pumpen murmeln und lassen mit langen Seufzern Leben durch Schläuche und Nadeln in Kevins Körper fließen. Würde der Kreislauf unterbrochen, wäre es in kurzer Zeit beendet

Kevin ist 18 Monate alt und einer der jüngsten Bewohner im Zwerg Nase Zentrum Wiesbaden. Bis zu 84 Kinder und junge Erwachsene können in dem im März 2021 eröffneten Neubau neben der Kinderklinik der Helios Dr.-Horst-Schmidt-Klinik leben. Alle Bewohner sind mehrfach- und schwerstbehindert und auf Hilfe und Pflege rund um die Uhr angewiesen.

Sie sind in Wohngruppen eingeteilt: Die sogenannten Zwergenkinder sind an Epilepsie erkrankt, unter anderem. Ihre Zimmer liegen im Erdgeschoss, neben Schul- und Therapieräumen. Die erste Etage gehört den „Rotkehlchen“, Kindern wie Kevin, die dauerbeatmet werden.

Im zweiten Stock wohnen „Alltagshelden“, junge Erwachsene. Laut Gesetz, müssen sie nach dem 18. Geburtstag in ein Altenpflegeheim umziehen. Das Zwerg-Nase-Zentrum ist eine der wenigen Einrichtungen in Deutschland, für die eine Ausnahmeregel gilt: Sie können bis zum Tod in der gewohnten Umgebung bleiben. In der obersten dritten Etage haben Geschäftsführung und Mitarbeiter ihre Büros; dazu gibt es 12 Plätze für „Zwergenkinder“, die zur Kurzzeitpflege kommen.

Sabine Schenk, Geschäftsführerin der Zwerg Nase Zenrum gGmbH Wiesbaden

Geschäftsführerin der Zwerg Nase Zentrum gGmbH ist Sabine Schenk (Foto). Sie ist groß und schlank, und müsste man ihren Beruf auf Grund ihrer Erscheinung erraten, läge man daneben: Sie sieht aus, wie die Chef-Designerin eines Rock´Roll-Modelabels, strahlt dabei jedoch keine elitäre Abgehobenheit aus, sondern Bodenständigkeit und Wärme. Und von den High Heels bis zur rabenschwarzen Mähne verkörpert sie die Aufforderung, Schubladen zu schließen und vorurteilsfrei und offen auf einander zuzugehen.

Das ist auch die Botschaft des Hauffschen Märchens vom Zwerg Nase, dem Namenspatron: Eine Zauberin hat den schönen Jüngling Jakob verhext. Er ist seither so häßlich und entstellt, dass nicht einmal die Eltern ihn und seine wundervollen Fähigkeiten erkennen. In der Einrichtung, die Professor Dr. Michael Albani gründete, sollte kein Kind und Jugendlicher mit Schwerstbehinderungen verkannt und unterschätzt werden – und keine Mitarbeiterin und kein Mitarbeiter.

2004 hat Professor Dr. Michael Albani das erste Zwerg Nase Haus eröffnet, den kleineren Vorläufer des Zwerg Nase Zentrums. Er war bis 2009 Leiter der HSK Klinik für Kinder und Jugendliche und hat in seinen Amtsjahren noch einiges mehr auf die Beine gestellt: Er baute die Intensivstation für Neugeborene aus, richtete eine Notfallambulanz ein, die mit niedergelassenen Ärzten zusammenarbeitet, und eröffnete eine Tagesklinik. Für sein Engagement erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Sabine Schenk ist von Anfang an als Managerin bei Zwerg Nase dabei. Sie ist Kinderkrankenschwester und hat ein BWL-Studium mit Schwerpunkt Gesundheitsmanagement absolviert. „Die Kombination stellte sich beim Einstellungsgespräch offenbar als ganz brauchbar heraus“, sagt sie mit einem vergnügten Lachen und erinnert sich: „Als Professor Albani sich damals für mich entschieden hatte, beendete er die Beschreibung meiner Aufgaben mit: ,Du machst das schon’“.

Einiges mache sie anders eine "übliche Managerin“, wie sie sagt. „In meinem Budget sind zum Beispiel Glitzernagellack, Modeschmuck, bunte Bettwäsche, Vorhänge, Kuscheltiere und kindgerechte mp3-Player eingeplant.“ Dinge, die nüchtern betrachtet, keinen medizinischen oder praktischen Nutzen haben. Sie wirken jedoch geradezu zauberhaft: Sie verwandeln eine Pflegeinstitution in ein Zuhause.

Die wichtigeste Rolle dabei spielen die Mitarbeiter. Über ihr Team aus Ärzten, Logopäden, Ergotherapeuten, Pflegekräften, Pädagogen, Reinigungspersonal, Hausmeister, Lieferanten und Küchenkräften sagt Sabine Schenk: „Wir und die Kinder sind eine Großfamilie. Jeder wertschätzt jeden, und jeder hilft jedem.“

Und sie fügt hinzu: „Das gibt es hier nicht, dass jemand an einem Kind vorbei geht, ohne es zu begrüßen und ein paar Worte zu wechseln. Und wenn während der Bewegungstherapie die Windel gewechselt werden muss, wird nicht nach einer Pflegekraft gerufen. Das macht die Therapeutin eben mal gerade mit.“

Es gehe darum, Kinder nicht als Patienten, sondern als Personen zu sehen, und möglichst viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Zu plaudern, zu lachen, zuzuhören, da zu sein, sind die Schwerpunkte der Arbeit. Neben der beruflichen Qualifikation, seien darum Offenheit und Herzlichkeit wichtige Einstellungskriterien: „Die Chemie muss stimmen, mit dem Team und mit den Kindern.“

Pragmatisch und unkompliziert sollten die Mitarbeiter ebenfalls sein: Beim Umzug im März 2021 vom Altbau, der kaum 100 Meter entfernt auf dem Nachbarhügel liegt, haben alle mit angepackt. Geschäftsführung, Pflegekräfte, Therapeuten, Pädgogen, Haustechniker haben Möbel und Kisten geschleppt, Regale eingeräumt, geputzt, um Kosten zu sparen.

 

 

Ein kurzer Heimatfilm 

 

„Zwerg Nase gibt so viel Geld wie möglich unmittelbar für die Kinder aus, für ihre Lebensfreude und ihren Spaß“, sagt Sabine Schenk. Zum Beispiel auch für Shopping-Ausflüge in die Stadt und für Kurzreisen ins Planetarium: „Mit entsprechendem Aufwand, können auch beatmete Kinder Abenteuer erleben und die Welt erkunden.“

Finanziert wird das Zwerg-Nase-Zentrum durch die Pflegesätze der Krankenkassen, den Zwerg-Nase-Förderverein und durch Spenden. Entsprechende Veranstaltungen und Aktionen sind zwei Jahre in Folge coronabedingt ausgefallen. „Das Virus hat uns nicht nur finanziell ganz schön zugesetzt“, sagt Sabine Schenk. „Auch das Tragen der Masken und die Abstandsgebote seien schwierig gewesen: „Viele unserer Kinder kommunizieren nicht mit Sprache, sondern mit Blicken und Berührungen. Da war leider lange Zeit eine liebevolle Zuwendung nur erschwert möglich."

Inzwischen sind Nähe und Besuche wieder alltäglich. Viele Familien kommen regelmäßig. „Aber es gibt auch welche, die sich innerlich verabschiedet haben“, sagt Sabine Schenk, und dass sich niemand schlecht fühlen müsse, weil ihn die Rund-um-die Uhr-Betreuung überfordert. „Wir sind  oft die beste Lösung für die Familie und das beste Zuhause für das Kind.“

Einige junge Mitglieder der Zwerg-Nase-Großfamilie werden über das Jugendamt vermittelt. Es sei leider nicht selten, dass schwerbehinderte Kinder vernachlässigt und misshandelt würden: „Für Notfälle dieser Art haben wir immer ein Zimmer frei. In der Regel weisen wir kein Kind ab, ausgenommen Kinder, die schwer aggressives oder autoaggressives Verhalten zeigen. Wir sind keine Psychiatrie, in der wir Kinder ruhig stellen. Das können wir nicht leisten.“

Betroffene Eltern sind eingeladen, sich zu informieren. Sie werden ausführlich beraten, bevor sie die Entscheidung treffen, dass ihr Kind ins Zwerg Nase Zentrum umzieht. Und auch danach sind Experten weiter für sie da, helfen bei der Neuorientierung und auch beim Abschied nehmen.

Für alle Kinder und junge Erwachsene ist das Haus eine letzte Station auf ihrem Lebensweg. Kaum jemand vollendet das dritte Lebensjahrzehnt, viele nicht einmal das erste.

„Dich zu kennen und zu lieben war eins.“

„Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind.“

„Nichts stirbt, was in Erinnerung bleibt.“

Kinder, die gestorben sind, bekommen einen Platz im Sternengarten, in der Nähe des Spielplatzes. In Beeten liegen Schrifttafeln mit Worten des Gedenkens. Sternskulpturen aus farbigem Plexiglas mit aufgemalten Namen überragen Stauden und leuchten weiter, wenn alles Lebende verblüht ist.

Kevin wohnt seit Monaten im Zwerg Nase Zentrum. Seine Eltern besuchen ihn regelmäßig und bringen Geschenke. Jetzt steht Sabine Schenk an seinem Bettchen: „Na, Schätzchen“, sagt sie und streichelt ihm das Ärmchen und die Hand. Seine Beine zucken kaum merklich, doch es ist unmissverständlich ein Ausdruck des Wohlgefühls.

Wörter formen, wie viele Kinder in seinem Alter, wird er nie können. Er wird nie allein sitzen, laufen, essen, zur Toilette gehen. Er wird als Kleinkind sterben. „Auch unsere jungen Erwachsenen bleiben, was ihren geistigen und seelischen Entwicklungsstand betrifft, Kleinkinder oder junge Teenager.“

Viele Bewohner des Zwerg Nase Zentrums machen größere Entwicklungsschritte und leben wesentlich länger als die Statistiken es voraussagen. Doch alle leben zu kurz: „Es ist eine wunderbare Aufgabe, ihnen die Zeit hier so schön wie möglich zu machen“, sagt Sabine Schenk. „Wenn ein Kind stirbt, weinen und trauern wir. Aber erst dann. Bis dahin lachen, lernen und leben wir miteinander, mit so viel Freude wie möglich.“  

Neubau Zwerg Nase Zentrum

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