"Die Sicherheit für das Baby und mich während der Geburt standen für meinen Mann und mich an erster Stelle“, sagt Marion*, 27. „Und der sicherste Ort der Welt ist für uns unser Zuhause.“ Die junge Familie hat zwei, sie pendelt zwischen Wiesbaden und Amsterdam, wo das Baby im Ehebett zur Welt kam, ein gesundes Mädchen. Hausgeburten sind in den Niederlanden verbreitet, etwa 30 Prozent der Elternpaare entscheiden sich dort gegen eine Klinik, in Deutschland nur rund 1, 3 Prozent, so Schätzungen der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG). Wieviele der 1403 Mädchen und 1532 Jungen 2019 in Wiesbaden zuhause zur Welt gekommen sind, dazu gibt es im Statistischen Jahrbuch des städtischen Amts für Statistik und Stadtforschung keine Angaben. Entspräche die Quote jedoch dem Bundesdurchschnitt, dann wären es um die 30 der 2935 Kinder.
„Meine niederländische Schwiegermutter hat ihre beiden Kinder daheim zur Welt gebracht, für sie war unsere Entscheidung der Normalfall“, erzählt Marion, und dass ihre deutsche Familie ganz anders reagiert habe: mit mehr und weniger verhaltenem Entsetzen. „Meine Mutter hat geweint aus Sorge, und meine Schwester, die ihr Kind in einer Klinik zur Welt gebracht hat, fragte: Was, wenn etwas schief geht? Ich sei ich in zehn Minuten in der nächsten Klinik, habe ich geantwortet, und mein Risiko einer Komplikation sei dazu minimal.“
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und die QUAG vertreten eine andere Position: Auch ohne Risikofaktoren könne es zu unerwarteten Komplikationen kommen, die das Baby gefährden. So sei die Sterblichkeitsrate bei Kindern, die während der Geburt als Notfall in die Klinik verlegt werden mussten, dreimal höher als ohne Verlegung. Auch sei die Krankheitsrate der Kinder, die während der Geburt verlegt werden müssen, doppelt so hoch.
Die meisten Hebammenverbände halten dem Zahlen und Studien entgegen, die besagen, dass es bei 17 von 100 Frauen, die während der Geburt in eine Klinik fahren müssen, nicht zu bedrohlichen Auswirkungen auf das Kind kommt; denn ein häufiger und für das Kind zunächst harmloser Grund für die Verlegung sei etwa, dass die Wehen schwächer werden oder die Mutter starke Wehenschmerzen hat. Nur eine von hundert Frauen müsse in Eile verlegt werden. Dazu haben 99 von 100 hierzulande außerklinisch geborenen Babys den optimalen APGAR-Wert, der die Vitalität des Neugeborenen anzeigt, und auch die Neugeborenensterblichkeit sei mit 0,17 Prozent nicht erhöht.
„Meiner Erfahrung nach sind Hausgeburten ebenso sicher wie Klinikgeburten, aber natürlich nur, wenn alle Vorraussetzungen stimmen“, sagt Anika Spahn, Kreissprecherin der Wiesbadener Hebammen und seit zehn Jahren im Beruf: „Besonders wichtig ist, dass die Schwangere engmaschig betreut und von der Hausgeburthebamme gut vorbereitet wird, und dass Mutter und Kind gesund sind und keiner Risikogruppe angehören.“
Zu den Risiken, die gegen eine Hausgeburt sprechen, zählen:
- Mehrlingsgeburten
- Frühgeburten
- Babys, die mehr als drei Tage nach dem errechneten Termin zur Welt kommen, es sei denn, der Arzt bescheinigt die Unbedenklichkeit
- Babys in Quer-, Steiß- und Beckenendlagen
- Mütter mit Vorerkrankungen, darunter Diabetes
- Spätgebärende, also Frauen, die älter als 35 Jahre sind, es sei denn, der Arzt bescheinigt die Unbedenklichkeit.
- eine vor dem Muttermund liegende Plazenta
- wenn vorab erkennbar ist, dass die Nabelschnur sich um den Hals des Kindes geschlungen hat.
- Herzfehler und andere Erkrankungen des Föten
- Bluthochdruck oder starkes Übergewicht der Mutter
Die vergleichsweise niedrige Quote der Hausgeburten in Deutschland liegt jeodch nicht nur am verbreiteten Zweifel an der Sicherheit, sondern ist auch eine Folge der Politik. Sie schreibt eine obligatorische Versicherung für Hebammen vor, die Hausgeburten anbieten. Um die 9000 Euro pro Jahr beträgt die Prämie, mehr als zehnmal so viel wie das Honorar für eine Hausgeburt: „Wenn man Kosten und Steuerabgaben einrechnet, bedeutet das, dass wir zwei Hausgeburten pro Monat machen müssen, allein um die Prämie zu bezahlen. Dazu sind die wenigsten Hebammen bereit, und ich bin es auch nicht“, sagt Anika Spahn. Von den 40 freien Hebammen im Stadtgebiet führt aktuell keine Hausgeburten durch. Die Kolleginnen, die aus Frankfurt und Idstein anreisten, seien permanent ausgebucht: „Die Nachfrage ist deutlich höher als das Angebot.“
Viele Ärzte halten Hausgeburten generell für bedenklich – entgegen der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO und einflussreicher Hebammenvereinigen, darunter des Deutschen Fachverband des Hebammenhandwerks e.V.: „Eine Geburt ist keine Krankheit“, lautet deren gemeinsames Credo, jede Geburt berge zwar Risiken, doch es gebe keine Studien, die eindeutig belegen, dass es bei Hausgeburten von engmaschig betreuten Schwangeren größer sei. Dazu ist die Krankenhausdichte landesweit fast überall so groß, dass kaum jemand im Notfall lange Transportwege fürchten muss.
„Eltern, die sich wohlfühlen mit der Entscheidung für eine Hausgeburt, rate ich nicht kategorisch ab“, sagt Anika Spahn. Aber sie empfiehlt, die Hausgeburt vorsichtshalber in der Wunschklinik anzumelden: „Es gibt zusätzliche Sicherheit, wenn die Eltern die Räume kennen, und die Klinik auf eine eventuelle Einlieferung vorbereitet ist. Wenn die Eltern durch Kurse und Voruntersuchungen entsprechend vorbereitet sind, kann eine Hausgeburteine wundervolle Erfahrung sein, und sie kann Vorteile haben.“ Die Frauen seien normalerweise entspannter und brauchten weniger Medikamente: "Die Geburt verläuft oft einfacher und schneller.“
Warum eine Hausgeburt oft schneller und entspannter verläuft, wie Anika Spahn und Marion berichten, führen einige Wissenschaftler auf einen entwicklungsbiologischen Grund zurückt: Einst war es eine sinnvolle Überlebensstrategie, dass die Wehen aussetzten, sobald die Gebärende ihr Lager verließ. In prähistorischen Zeiten war der Grund nämlich meist eine Gefahr, vor der es zu fliehen galt. Heute verkompliziert die Körperreaktion jedoch den Geburtsvorgang: "Viele Frauen erleben, dass die Wehen erst einmal aufhören, sobald sie ins Auto steigen oder die Klinik betreten", sagt Anika Spahn.
„Auch bei meiner Schwester stoppten die Wehen in der Klinik", erzählt Marion. "Sie kam an den Tropf mit Wehenauslöser, und erlebte die Klinikgeburt als äußerst langwierig und schmerzhaft." Marion hat ihr Baby in nur drei Stunden bekommen. Die meiste Zeit hockte sie während der regelmäßigen Wehen über einen Geburtsball gebeugt, in einer Position, die viele Frauen intuitiv bevorzugen: Während die Gummikugel mit etwa einem Meter Durchmesser dem Oberkörper Halt gibt, kann die Schwerkraft die Wehenarbeit unterstützen. „Wir hatten unsere Lieblingsmusik an, wir haben getanzt, mein Mann hat mich massiert, wir haben gelacht, geweint und uns umarmt und geküsst. Es war eine sehr intensive, intime und schöne Zeit.“
Ihre Hebamme, erzählt Marion, sei nur während der letzten halben Stunde dazu gekommen, rechtzeitig zu den Presswehen. Sie habe dem Baby sanft auf die Welt geholfen, es untersucht und sei danach geblieben, um das Bett frisch zu beziehen und die Wohnung aufzuräumen. „Aber davon haben mein Mann und ich fast nichts mitbekommen, weil wir nur Augen für unsere Tochter hatten", erzählt Marion. Sie habe die Geburt nicht als schmerzhaft, sondern vielmehr als eine sportliche Anstrengung erlebt: "Als einen Marathon, kombiniert mit einer Power-Yoga-Stunde. Danach fühlte ich mich erschöpft, aber stolz, glücklich und irgendwie voller Kraft.“ Würde sie eine Hausgeburt allgemein empfehlen? „Nein, alle Mütter und Väter müssen für sich entscheiden, in welcher Umgebung sie sich sicher und entspannt fühlen. Bei einigen ist das in einem Krankenhaus mit Experten in Rufnähe.“
Inzwischen ist es europäischer Standard, dass Kliniken die Geburt so „häuslich“ wie möglich gestalten. Zahlen belegen, dass die Atmosphäre nicht nur die Geburt erleichtern kann, sondern auch die Verbindung der Mutter zum Neugeborenen fördern kann. Postnatale Depressionen treten seltener auf, und es kommt auch seltener zu Problemen beim Stillen, wie La Leche Liga dokumentiert hat, die bereits 1956 gegründete internationale Non-Profit-Organisation zur Förderung des Stillens.
Auch die Kreißsäle in Wiesbaden erinnern eher an freundliche Hotelzimmer als an Operationsräume. Eine Alternative zu Krankenhaus und Hausgeburt und eine Art Kompromiss sind Geburtshäuser, von Hebammen betriebene Einrichtungen, in denen Eltern vor, während und nach der Geburt individuell betreut werden. Kommt es dort während der Geburt im gemütlich eingerichteten Apartment, oft mit Kochecke und Bad, zu Komplikationen, müssen die Gebärenden wie bei Hausgeburten in eine Klinik wechseln: „Aber das passiert selten, auch, weil die Ausstattung mit medizinischen Artikeln und Hilfsmitteln wie Geburtsbällen und -wannen besser ist als in einer Wohnung“, sagt Anika Spahn.
Die Kosten für Geburtshäuser, wie auch für eine Klinik- und Hausgeburt, tragen übrigens die Krankenkassen – und jede Frau hat ein gesetzliches Recht auf eine Hebammenbetreuung.
*Name geändert, Marions echter Name und Kontaktdaten liegen vor.
Weiterlesen und informieren
Eine Geburt ist erst einmal keine Krankheit, darin sind sich alle genannten Stellen einig. Beim Einschätzen der Risiken einer Hausgeburt gibt es jedoch unterschiedliche Haltungen. Folgende Sites und Broschüren beantworten Fragen zu Schwangerschaft und Geburt können bei Ihrer Entscheidung helfen.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands
Deutscher Fachverband des Hebammenhandwerks e.V.
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft
Deutscher Hebammenverband
Gesellschaft für Qualität in der außenklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG), Broschüre als Download
Netzwerk der Geburtshäuser
Stadt Wiesbaden, Broschüre als Download
WHO (Englisch)