Wiesbadener Apothekergarten - Gesundheitskompass-Wiesbaden
Der Wiesbadener Apothekergarten
Dr. Ernst Binde; © privat
Spazierwege zur Gesundheit
Blüten gegen Stress, Blätter gegen Schmerzen – im Apothekergarten Wiesbaden präsentieren sich pharmazeutische Wirkstoffe in ihrer schönsten Form. Ein Ausflug mit dem fachlichen Leiter Dr. Ernst Binde in die fantastische Welt der Arzneipflanzen
Selten sieht „Appetitlosigkeit“ so malerisch aus wie am Westeingang des Wiesbadener Apothekergartens. Ab Juni tanzen filigrane Blüten des gelben Enzians über einen dichten Blätterteppich. Der Schwalbenwurz-Enzian webt blaue Tupfen hinein, und Wermut, Bitterklee und Schleifenblume setzen weiße Akzente.
Gegenüber, bei den „Herzbeschwerden“, beginnt die Blütezeit bereits im April: mit den weißen Kelchen der Maiglöckchen. Später im Jahr folgen unter anderem die gelben Sterne der Adonisröschen, die lila- und pinkfarben Leuchtkerzen von Fingerhut und das Feuerwerk des Oleanders.
Mehr als 270 Arzneipflanzen aus allen Teilen der Welt gedeihen in den 29 Beeten. Zwei Gärtner und saisonale Hilfskräfte übernehmen die Pflege des 5500 Quadratmeter großen Areals östlich der Parkanlagen Aukammtal. Für die Auswahl und Anordnung der Gewächse und die sorgsame Beschriftung ist der fachliche Leiter zuständig, Dr. Ernst Binde. Mit seiner Arbeit verwandelt er den Park in ein begehbares Lexikon. Spaziergänger sind eingeladen, Schritt für Schritt in aller Ruhe ihr Wissen vergrößern.
Stauden, Gehölze und Einjährige liefern Stoffe, die in zahlreichen Medikamenten stecken. Einige der Beete sind, wie „Appetitlosigkeit" und „Herzbeschwerden", nach Indikationsgebieten benannt. Andere tragen die Namen historischer Personen, die Arzneipflanzen studiert und verwendet haben.
Hildegard von Bingen ist eine Namensgeberin. Die Universalgelehrte, Autorin und Äbtissin ist 1098 geboren, vermutlich nahe Bingen; 2012 wurde sie heilig gesprochen. Mehr als 1800 ihrer Rezepturen sind überliefert, einige werden bis heute unter ihrem Namen vermarktet.
Auch nach Walahfrid Strabo, geboren 808 am Bodensee, ist ein Beet benannt (Foto oben). Der Abt, Naturkundler und Autor hat unter anderem „Hortulus“ verfasst. Das Werk, das Poesie und Pflanzenwissen vereint, gilt noch über 1200 nach dem Erscheinen als Standardlektüre unter Experten.
Über sein Lieblingskraut schreibt Strabo etwal: „Nimmer fehle mir ein Vorrat gewöhnlicher Minze, so verschieden nach Sorten und Arten, nach Farben und Kräften. Wenn aber einer die Kräfte und Arten und Namen der Minze samt und sonders zu nennen vermöchte, so müsste er gleich auch wissen, wie viele Fische im Roten Meer schwimmen.“
Die Initiative für den Wiesbadener Apothekergarten ging Anfang der 1980er Jahre vom damaligen städtischen Gartenbaudirektor Hildebert de la Chevallerie und seiner Frau Rita de la Chevallerie aus. Die Wiesbadener Apothekerschaft nahm die Idee auf. Finanziert wurde und wird der Garten von der Stadt Wiesbaden, der Landesapothekerkammer Hessen, dem Hessischen Apothekerverband und Apothekern aus der Landeshauptstadt und dem Umland.
Eröffnet hat die Anlage 1986. Der erste fachliche Leiter, der Apotheker Dr. Heinz Hofmann, hat die Arzneipflanzen ausgewählt und die meisten der Beete, wie sie bis heute bestehen, angelegt und benannt. Dr. Ernst Binde ist seit 2001 im Amt. Bis dahin leitete der Experte für Arzneipflanzen die Apotheke des St. Josefs-Hospitals Wiesbaden.
„Meine Hauptaufgabe ist die Weitergestaltung“, sagt er. „Die meisten Gewächse müssen zu jeder Saison ausgetauscht werden. Und immer wieder gibt es Pflanzen, die plötzlich wichtig werden und prominent platziert werden wollen.“
2022 ist Mönchspfeffer ein neuer „Star“. Der interdisziplinäre Studienkreis „Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde” am Würzburger Institut für Geschichte der Medizin hat den bis zu fünf Meter hoch wachsenden mehrjährigen Strauch aus dem Mittelmeerraum zur Arzneipflanze des Jahres gewählt.
Im antiken Griechenland galt Mönchspfeffer als Symbol der keuschen Ehe: Die Wirkstoffe, so glaubte man, schwächten den Sexualtrieb ab. Im Mittelalter setzen Mönche die Pflanze ein, um die Enthaltsamkeit zu erleichtern. Heute wird Mönchspfeffer in der Frauenmedizin verwendet, und es gibt offene Studien und Anwendungsbeobachtung, die für eine wissenschaftlich erwiesene therapeutische Wirksamkeit sprechen.
„Man muss mit dem Begriff Arzneipflanzen vorsichtig sein“, sagt Dr. Binde. Das beginne schon mit ihrer gebräuchlichen Bezeichnung als sogenannte Heilkräuter. Sie führe in die Irre: „Denn viele der Pflanzen sind botanisch betrachtet gar keine Kräuter, sondern Gehölze. Und die Mehrzahl der Pflanzen heilt nicht, sondern wirkt lediglich vorbeugend oder lindernd.“
Ein weiteres Missverständnis klärt er auf: Eine Mehrzahl der Pflanzen im Wiesbadener Apothekergarten gehörten nicht in die Abteilung Volks- und Hausmedizin. „Sie liefern vielmehr Stoffe für die Pharmaindustrie, für zugelassene Medikamente.“
Dr. Binde rät ab, auf eigene Faust mit Pflanzen als Medizin zu experimentieren: „Man sollte eine Behandlung immer mit dem Arzt oder Apotheker absprechen. Zum einen ist die Wirkung vieler Hausmittel nicht erwiesen, zum anderen können Nebenwirkungen vorkommen, etwa Allergien oder sogar Vergiftungen.“
Er nennt als Beispiel Huflattich: Seit der Antike habe man ihn gegen Husten eingesetzt. „Inzwischen weiß man, dass die Pflanze, wie wir sie in der Natur antreffen, für den Menschen giftige Pyrrolizidin Alkaloide enthält. Bei längerer Anwendung können sie die Leber und das Erbgut schädigen und Krebs erregen. Erst als es gelungen ist, pyrrolizidinfreie Sorten zu züchten und anzubauen, wird Huflattich wieder als Arzneipflanze genutzt.“
Da der Apothekergarten öffentlich ist, sind giftige Pflanzen selten und mit Warnhinweisen versehen. Hunde sind aus Gründen der Vorsicht nicht erlaubt. Arzneipflanzen, deren privater Anbau verboten ist, wie Schlafmohn und Canabis, gibt es nicht zu sehen. Giftig sind etwa die Alraune im Beet der Hildegard von Bingen und stechapfel im „Asthma-Beet“. Dort wächst auch Ephedra; deutscher Name: Meerträubel.
Die Pflanze, die auf den ersten Blick Ginster ähnelt, enthält Ephedrin: „Früher war es das Mittel der Wahl gegen Bronchialasthma, heute wird es wegen gefährlicher Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System nicht mehr genutzt“, sagt Dr. Binde. Chemisch besteht eine Verwandtschaft zu dem Sucht- und Aufputschmittel Amphetamin.
Leistungssportler, bei denen Ephedrin nachgewiesen wird, gelten als gedopt: „Und im Botanischen Garten Frankfurt werden Pflanzen besonders bewacht“, erzählt Dr. Binde. Ein Klientel aus der Drogenszene habe nämlich ein allzugroßes Interesse an dem Gewächs aus dem Mittelmeerraum gezeigt.
Mit vier ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen führt er ab Mai Besucher von Beet zu Beet, und verwandelt die Geschichten der Arzneipflanzen in Krimis, Rätsel, Komödien und Heldenepen: Am Teich überragt ein wahrer Lebensretter den Pavillon, Artemisia annua, einjähriger Chinesischer Beifuß.
168 vor Christi wurde die Arzneipflanze in der chinesischen Volksheilkunde erstmals beschrieben und seit etwa 340 hat man sie in China als Fieber- und Malariamittel verwendet. 1972 isolierte die Chinesin Youyou Tu den Wirkstoff Artemisinins, und ein Jahr danach bestätigten erste erste klinische Studien die Wirksamkeit des Stoffs. Seither hat er im Medikament Artemisinin Millionen Menschen von Malaria geheilt. 2015 erhielt Youyou Tu für ihre Forschung den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.
„Chinesischer Beifuß ist sicherlich eine der spannendsten Arzneipflanzen in der Sammlung“, sagt Dr. Binde, der privat ein begeisterter Gärtner ist. Sein persönlicher Favorit ist weitaus weniger spaktakulär: Pfefferminze. „Bei Muskelverspannungen verwende ich Öl aus der Apotheke zum Einmassieren, und als Erfrischung trinke ich gern eine Tasse Tee aus frisch geernteten Blättern.“
Adresse, kostenlose Führungen (ab Mai) und mehr Informationen
Blühende Hausapotheke
Was wirken kann, wie Bitterklee (Foto), kann auch Nebenwirkungen haben. Generell sollte man darum von Selbstversuchen mit Arzneipflanzen absehen oder zuvor einen Arzt oder Apotheker konsultieren. Eher unbedenklich sind jedoch Kräuter und Gewürze, die als Lebensmittel zugelassen sind oder in Drogerien verkauft werden. „Auch wenn ihre Wirkung nicht unbedingt wissenschaftlich belegt ist, können sie gut tun“, sagt Dr. Binde und fügt hinzu: „Bei leichten Beschwerden genügt es oft, an die Wirkung zu glauben und ein Ritual zu genießen.“
Alle erwähnten Pflanzen kann man ab Februar vorziehen und nach dem ersten Frost im Kübel oder Beet im aussetzen oder im Freiland aussäen. Sie vertragen ihre Nachbarschaft und bevorzugen einen sonnigen bis halbschattigen Platz und lehmige, nicht zu feuchte Böden. Als willkommene Nebenwirkungen ziehen sie zur Blütezeit Schmetterlinge und Bienen an und bis in den Herbst verströmen sie angenehme Düfte.
FENCHEL UND ANIS
Gegen: Magenverstimmungen, Verdauungsprobleme, Völlegefühl,
Verwendet werden: Samen für Tee oder als Gewürz (Öl aus der Apotheke)
Erntezeit: ab September. Nach der Blütezeit die Dolden abschneiden, kopfüber hängend trocknen und dann die Körnchen heraus schütteln.
KÜMMEL (Arzneipflanze des Jahres 2016)
Gegen: Magenverstimmungen, Verdauungsprobleme, Völlegefühl, Gallenbeschwerden
Verwendet werden: Samen für Tee oder als Gewürz (Öl aus der Apotheke)
Erntezeit: ab September. Nach der Blütezeit die Dolden abschneiden, kopfüber hängend trocknen lassen und dann die Körnchen heraus schütteln.
SALBEI
Gegen: Grippale Infekte, Halsentzündungen, Zahnfleischerkrankungen, Pickel
Verwendet werden: Blätter für Tee oder als Gurgelmittel
Erntezeit: April bis September.
PFEFFERMINZE
Gegen: Magen- und Darmbeschwerden, Erkältungen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen
Verwendet werden: Blätter als Tee oder Sud für Umschläge (Öl oder Salbe aus der Apotheke)
Erntezeit: Mai bis Oktober
KAMILLE
Gegen: Magen- und Darmbeschwerden, Entzündungen, Anspannungen, Ängste, und depressive Verstimmungen
Verwendet werden: Blüten für Tee oder Sud für Umschläge
Erntezeit: Mai bis September
LAVENDEL
Gegen: Stress, depressive Verstimmungen, Ängste, innere Unruhe – vertreibt auch Insekten
Verwendet werden: getrocknete Blüten als Duftsäckchen oder Badezusatz (Öl aus der Apotheke)
Erntezeit: nach der Blüte im August; Blüten trockenen (einige Sorten sind winterhart).