Warum Resilienz eine Kunst ist, aber kein Kunststück

Wie kommt es, dass einige Menschen in Krisensituationen oder trotz traumatischer Erlebnisse unbeschadet bleiben, während andere den Boden unter den Füßen verlieren? Resilienz nennen Fachleute die seelische Widerstandskraft, die individuell ausgeprägt ist. Sie zu untersuchen und Faktoren zu finden, die sie stärken und schwächen, sind Schwerpunkte der Forschungen von Dr. Isabella Helmreich. Wir sprachen mit ihr über den Einfluss der Gene, die Rolle der positiven Lebenseinstellung und über Möglichkeiten, Resilienz zu trainieren.

Dr. Isabella Helmreich ist psychologische Psychotherapeutin und Expertin für Gesundheitsprävention mit Schwerpunkt Resilienzförderung. Mit Dr. Donya Gilan, Psychologin und Expertin für psychische Gesundheit, Bewältigung von Krisen und Anpassung an neue Lebenssituationen, leitet sie den Bereich „Resilienz & Gesellschaft“ des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz. Die Wissenschaftlerinnen haben, in Zusammenarbeit mit Dr. Omar Hahad, Stressforscher am Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, ein Buch veröffentlicht: Resilienz – Die Kunst der Widerstandskraft (Herder, 22 Euro). “Was die Wissenschaft dazu sagt",  lautet der Untertitel, der den Inhalt zusammenfasst: Auf 208 Seiten sind die Geschichte und der aktuelle Stand der Forschung beschrieben. Dazu zeigen Fallbeispiele, wie es einzelnen und der Gesellschaft gelingt, Krisen zu meistern und Traumata zu überstehen.
Foto: © Oliver Rüther

Dr. Isabella Helmreich

"Erschaffe Situationen, in denen du Stress nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung betrachtest"

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Resilienz ist allgemein definiert als Widerstandskraft der Seele. Stimmen Sie zu?
Dr. Isabella Helmreich: Ja, aber das ist mir zu verkürzt. Denn es fehlt der dynamische Aspekt. Resilienz ist die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der psychischen Gesundheit nach widrigen Lebensereignissen. Das heißt, es muss erst ein Stressor eintreten, damit sich entscheiden lässt, ob eine Person resilient ist oder nicht.

Gesundheitskompass: Ist Resilienz eine Charaktereigenschaft wie zum Beispiel Schüchternheit?
D.I.H.: Nein, es ist wissenschaftlich abgesichert, dass Resilienz eine veränderbare und erlernbar Fertigkeit ist, eher vergleichbar mit, sagen wir, der Fertigkeit zu schwimmen, statt unterzugehen. Und man kann sie erlernen und lebenslang trainieren.

Gesundheitskompass: Wie, in Kürze, funktioniert Resilienztraining, das viele Psychotherapeuten und Coaches anbieten?
D.I.H.: Es werden Strategien und Haltungen vermittelt, die es ermöglichen, die psychische Gesundheit zu stärken, zufriedener zu leben und mehr Wohlbefinden zu entwickeln. An erster Stelle steht der Blick auf eigene Ressourcen: Welche habe ich und wie kann ich sie für mich nutzen oder wieder nutzen?

Gesundheitskompass: Welche Rollen spielen Strategien zur Stressbewältigung?
D.I.H.: Die Arbeit an einer guten Stressbewältigung ist beim Resilienztraining sehr wichtig. Man lernt unter anderem, aktiv und selbstwirksam, also aus eigener Kraft, belastende Situationen zu verändern, statt in der Opferrolle zu verharren. Auch das Selbstwertgefühl wird gestärkt, und man erarbeitet mit dem Therapeuten individuelle Methoden, eine optimistische, positive Lebenseinstellung zu bekommen. Und nicht zu vergessen ist die Arbeit an einer guten Selbstfürsorge und Achtsamkeit für sich.

Gesundheitskompass: Gibt es dazu generell wirksame und einfache Übungen, die man ohne professionelle Anleitung ausprobieren kann?
D.I.H.: Ja, ich empfehle zum Beispiel die Kichererbsenübung. Packen Sie morgens eine Handvoll Kichererbsen in die rechte Hosen- oder Jackentasche. Bei jedem Ereignis, das Sie angenehm empfinden, einem Duft, dem Lächeln eines Fremden, einem Musikstück, einem Sonnenstrahl auf der Haut, einem beruflichen Erfolgserlebnis, lassen Sie eine Erbse in die linke Tasche wandern. Viele wundern sich, wieviele schöne Momente sie erleben. Und viele erfahren durch die Übung erst, was Ihnen alles Freude bereitet. Probieren Sie es aus!

Gesundheitskompass: Es wird also trainiert, in Krisen aktiv und positiv zu sein. Kann es nicht auch hin und wieder helfen, passiv zu bleiben und zu erdulden?
D.I.H.: Ja, manchmal ist auch das die richtige Strategie. Idealerweise sollte man beides beherrschen und unterscheiden können: Was kann ich aktiv verändern und worauf habe ich keinen Einfluss? In diesem Fall, wie etwa beim Tod eines geliebten Menschen, kann man die Situation nicht ändern. Dann ist es eher hilfreich, an den eigenen Einstellungen zu arbeiten. Und sich auch die Zeit zu geben zu trauern. Es ist sehr wichtig, dunkle, unangenehme Gefühle zuzulassen und dadurch sozusagen die Seele zu reinigen. Resilienz bedeutet ja nicht die Abwesenheit oder das Unterdrücken von Unglück und Leid.

Gesundheitskompass: Aber es stimmt doch, dass resiliente Menschen glücklicher sind?
D.I.H.: Sie haben zumindest mehr Möglichkeiten, dafür zu sorgen, auch in schwierigen Situationen Glück zu empfinden und vor allem auch beides nebeneinander zuzulassen.

Gesundheitskompass: Ist es bei der Resilienz wie beim Sport, und es gibt Menschen mit mehr und weniger Talent?
D.I.H.: Ja, Resilienz ist zum Teil auch in den Genen verankert, man könnte also von einer gewissen Begabung sprechen. Aber in wieweit sie sich ausprägt, hängt auch entscheidend von äußeren Faktoren ab.

Gesundheitskompass: Von welchen?
D.I.H.: Es sind ganz unterschiedlich. Gene interagieren mit der Umwelt. Je nachdem, was ich erlebe, welchen externen Einflüssen ich ausgesetzt bin, zum Beispiel Kriegen, Luftverschmutzung, einem Überangebot oder Mangel an Nahrung, hat das Einfluss auf meine Gene und kann dazu beitragen, dass diese in uns zum Tragen kommen oder nicht. Viele dieser Faktoren habe ich natürlich nur bedingt in der Hand.

Gesundheitskompass: Welche äußere Faktoren zeigen sich besonders wirksam, um die Resilienz zu stärken?
D.I.H.: Eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, aber vor allem ein stabiles soziales Netzwerk, das einen gut unterstützt, spielen wichtige Rollen. Spannend ist, dass Familie und Freunde nicht unbedingt tatsächlich anwesend sein müssen. Es genügt bereits das Wissen, dass jemand zuverlässig für einen da ist, damit man mit Krisen oder Traumata besser umgehen kann.

Gesundheitskompass: Können Eltern die Resilienzbegabung ihrer Kinder erkennen?
D.I.H.: Jedes Kind ist anders. Forscher sprechen in diesem Kontext von Löwenzahn- und Orchideenkindern. Erstere sind robust und reagieren vergleichsweise entspannt, wenn sie unter Stress oder in Krisensituationen geraten. Letztere reagieren feinnerviger, aber sie entwickeln dennoch Resilienz, wenn man sie entsprechend mehr fördert.

Gesundheitskompass: Wie können Eltern die Resilienz der Kinder fördern?
D.I.H.: Am besten mit einer sogenannten Stressimpfung, wie wir es nennen. Eine kleine Dosis stärkt und wappnet für eine große Dosis. Schon sehr kleine Kinder sollten hin und wieder scheitern, enttäuscht sein oder Konflikte allein lösen. Helikoptereltern, die alle Hürden aus dem Weg räumen und den Kindern negative Erfahrungen weitgehend ersparen, tun ihnen damit eher keinen Gefallen.

Gesundheitskompass: Nicht einzugreifen und nicht zu helfen, fällt schwer, wenn man jemanden liebt und beschützen will.
D.I.H.: Sicher. Aber Eltern sollen die Kinder ja nicht allein lassen und kühl zuschauen, wie sie sich aus misslichen Situationen heraus kämpfen, sondern ihnen liebevoll beistehen. Also wenn sie hinfallen, keine Panik verbreiten, wenn etwas misslingt, zum Weitermachen ermutigen und das Scheitern relativieren. Die meisten Eltern machen das intuitiv richtig. Was schätzen Sie, wieviele erwachsene Menschen in westlichen Ländern resilient sind?

Gesundheitskompass: Mehr als die Hälfte?
D.I.H.: Studien aus den USA belegen, dass zwischen 35 und 65 Prozent der Menschen nach wirklich traumatischen Ereignissen resilient sind, also keine seelische Erkrankungen davon tragen.

Gesundheitskompass: Waren frühere Generationen resilienter?
D.I.H.: Wer Hunger und Kriege erlebt hat, der hat sozusagen eine hoch dosierte Stressimpfung erhalten. Das kann zu größerer Resilienz führen, allerdings auch zum Gegenteil. Viele Menschen, aus Krisengebieten, denken Sie an Flüchtlinge, sind traumatisiert und leiden unter seelischen Beschwerden. Ein Leben in Frieden und Wohlstand wirkt sich für viele zweifellos positiver auf die Resilienz aus.

Gesundheitskompass: Es gibt Zahlen, die darauf hindeuten, dass ältere Menschen, die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit kennen, in der Pandemie seltener seelische Probleme entwickelt haben.
D.I.H.: Ja, unsere eigenen Forschungsergebnisse zeigen das auch. Eine Ursache ist, dass junge Menschen und vor allem Kinder durch die Pandemie viel größere Einbußen erfahren. Sie müssen zum Beispiel zuhause sitzen, auch wenn die Eltern im Home-Office oder durch Existenzsorgen gestresst sind. Vereinfacht gesagt, hat Corona für ältere Menschen weniger negative Veränderungen und Stress mit sich gebracht. Übrigens besagt eine unserer Studien, dass die allermeisten Menschen, egal welcher Altersgruppe, hierzulande die aktuelle Krise sehr gut bewältigen.

Gesundheitskompass: Können Sie Zahlen nennen?
D.I.H.: Rund 80 Prozent der Probanden dieser Studie haben ihre seelische Gesundheit gut aufrecht erhalten, die gehören der Gruppe der ,Resilienten´an. Zudem haben wir noch zwei weitere Gruppen gefunden: Die ,Vulnerablen´starteten mit einer mittleren Belastung in die Krise, kamen dann zunächst sehr gut zurecht, um mit der Zeit jedoch immer stärker belastet zu sein. Die ,Recovered` starteten mit einer ähnlichen Belastung wie die ,Vulnerablen´, waren zunächst stärker gestresst, haben sich dann im Lauf der Zeit aber sozusagen entspannt und kehrten auf das Niveau der ,Resilienten´ zurück. Solche Forschungsergebnisse helfen enorm dabei, menschliches Verhalten in der Pandemie besser zu verstehen und gezielt Interventionen für vulnerable Menschen anzubieten.

Gesundheitskompass: Das heißt, es gibt individuelle Arten, Resilienz zu erreichen, und einige Menschen brauchen mehr, andere weniger Zeit.
D.I.H.: Genau. Jeder muss für seine Situation passende Strategien für sich finden. Das können Humor, Kreativität und vor allem das sogenannte Positive Appraisal sein. Das ist eine Haltung, die besagt: Erschaffe Situationen, in denen du Stress nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung betrachtest. Die Pandemie ist auch eine Chance, etwas zum Besseren zu verändern.

Gesundheitskompass: Was ist  zum Beispiel positiv daran, dass die Theater so lange Zeit geschlossen waren?
D.I.H.: Durch die Online-Vorführungen hatten Zuschauer etwa die Möglichkeit, den Darstellern sehr nahe zu kommen, ihre Mimik genau zu studieren und ihnen quasi über die Schulter zu schauen. Man hatte sozusagen ein richtigen Logenplatz, den man ja normalerweise eher selten bekommt. Dadurch konnten sich ganz neue Sichtweisen auf ein Stück, die Leistung der Schauspieler und auf das eigene Leben ergeben. Und man konnte es sich zuhause  gemütlich machen und hatte keinen Stress, einen Parkplatz oder seinen Sitzplatz zu finden.  

Gesundheitskompass: Resilienztraining scheint überwiegend eine Kopfsache zu sein. Sind gebildete und intelligente Menschen, die gelernt haben zu reflektieren, resilienter?
D.I.H.: Zusammenhänge werden immer wieder festgestellt. Man weiß jedoch nicht, was Henne oder Ei ist. Wer eine gute Bildung hat, kann sich in der Regel mehr leisten, ernährt sich gesünder, kann bessere Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, lebt in einem besseren und gesünderen Umfeld. All diese Strukturen helfen, die psychische Gesundheit auch in Krisen aufrechtzuerhalten, also resilienter zu sein.

Gesundheitskompass: Sind Sie ein überdurchschnittlich resilienter Mensch?
D.I.H.: Generell würde ich mich schon als eher resilient einstufen. Aber wie jeder Mensch, muss ich immer wieder daran arbeiten, das heißt, bewusst auf mich achten, auf meinen Schlaf, meine Ernährung, meine Gewohnheiten. Und immer einmal wieder ist es nötig, mich am Schlafittchen zu packen, um aus einem Tal heraus zu kommen. Niemand ist durchgängig resilient und längst nicht jeder, der in eine Krise gerät und sich unglücklich und hilflos fühlt, muss direkt zum Therapeuten.

Gesundheitskompass: Sondern?
D.I.H.: Wir sollten nicht vergessen, dass ein gutes Maß an Stress und Tiefs zum Alltag gehören. Wer keine diagnostizierte Erkrankung oder stark beeinträchtigende Symptome hat, der kann sich erst einmal Zeit geben, Ratgeber lesen, mit Freunden sprechen, vielleicht eine Selbsthilfegruppe kontaktieren. Wer dann nach zwei, drei Wochen keine spürbare Besserung bemerkt, sollte jedoch nicht zögern, professionelle Hilfe zu suchen. Es ist keine Schande! Außerdem ermöglicht es unsere Gesellschaft jedem, sie bezahlt zu bekommen.

Gesundheitskompass: Frau Dr. Helmreich, vielen Dank für das Gespräch!

Adressen & Informationen

Mehr zum Thema Resilienz 

Welches Maß an Stress ist gesund? Antworten gibt Prof. Dr. Corinna Pfeifer, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie am Institut für Psychologie I der Universität zu Lübeck, im Interview "Flow statt Burnout" 

Vorbeugen und die Seele stärken
In wenigen Minuten erfahren Sie von führenden Wiesbadener Expertinnen und Experten, ob bei Ihrem Konsumverhalten, Ihrem Schlaf und Ihren Stressstrategien alles im grünen Bereich ist – oder wie Sie Gesundheitsproblemen vorbeugen können und wo Sie konkret Hilfe finden.

Sich selbst Gutes tun
Wiesbadener Therapeut*innen und Coach*innen stellen Konzepte und Übungen vor, die nicht nur in Krisenzeiten das Wohnbefinden steigern. Z. B. für die Aktive Pause oder Yogaübungen.