Erste Hilfe bei psychischen Notfällen

Warum zieht sich meine Freundin immer mehr zurück? Hat mein Kollege ein Alkoholproblem? Soll man wegschauen, wenn eine Fremde im Bus zittert und in Tränen ausbricht? „Jeder kann erste Hilfe für psychische Gesundheit leisten“, erklärt Dr. med. Julia Reiff. In zertifizierten Mental Health First Aid-(MHFA)-Ersthelfer*kursen bringt sie interessierten Laien bei, Probleme und Erkrankungen zu erkennen und richtig zu handeln.

*Aus Gründen des Leseflusses verwenden wir durchgehend männliche Formen, meinen jedoch alle Geschlechter.

Dr. med. Julia Reiff ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und seit April 2021 stellvertretende Klinikdirektorin der Vitos Klinik Eichberg. Ihr Engagement gilt der Prävention, Früherkennung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen. Weitere Informationen

Dr. Julia Reiff ©vitos rheingau

Im Kurs lernt man zu erkennen, ob jemand Hilfe braucht, und wie man konkret Hilfe leisten kann.

(Michelle Obama, ehemalige First Lady der USA und Absolventin eines MHFA-Kurses)

Führerscheininhaber*, Lehrer, Trainer in Sportvereinen, frisch gebackene Großeltern – eine Mehrheit in Deutschland hat einen Erste-Hilfe-Kurs besucht, freiwillig oder weil es Vorschrift ist. Fast alle Erwachsenen und viele Jugendliche wissen, was zu tun ist, wenn eine Wunde blutet oder ein Mensch das Bewusstsein verloren hat. So gut wie alle kennen die 112, die europaweite Notrufnummer. Doch dass sie auch bei psychischen Notfällen die erste Anlaufstelle ist, ist vielen nicht klar.

„Ersthelferwissen, wie wir jemandem mit einem psychischen Gesundheitsproblem helfen können, und insgesamt Wissen über psychische Störungen sind bisher vergleichsweise wenig verbreitet“, sagt Dr. med. Julia Reiff, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und stellvertretende Klinikdirektorin der Vitos Klinik Eichberg. „Die meisten Menschen fühlen sich hilflos, unsicher und überfordert, wenn sie damit konfrontiert sind.“

Das will Mental Health First Aid (MHFA Ersthelfer) ändern. Frei übersetzt bedeutet der Name „Erste Hilfe für psychische Gesundheit“. MHFA ist ein weltweites Programm, das nach Vorbild der Erste-Hilfe-Kurse für körperliche Gesundheit auf die psychische Gesundheit abzielt. Nach wissenschaftlich evaluierten Methoden lernen Laien, psychische Gesundheitsprobleme und Symptome im Umfeld frühzeitig zu erkennen und richtig zu reagieren.

Zwölf Stunden dauern die Präsenz- oder Online-Kurse zum zertifizierten MHFA-Ersthelfer. Teilnehmen können hierzulande Erwachsene ab 18 Jahren, die nicht unter einer akuten psychischen Erkrankung leiden.   

Die MHFA- Bewegung ist in Australien im Jahr 2000 entstanden. Die examinierte Krankenschwester, Gesundheitspädagogin und selbst Betroffene Betty Kitchener und Prof. Tony Jorm, Wissenschaftler und Experte für Früherkennung psychischer Störungen, haben das Programm zur Schulung von Ersthelfern und Kursleitern, sogenannten Instruktoren, entwickelt. Weltweit gibt es inzwischen mehr als sechs Millionen MHFA-Ersthelfer, darunter Michelle Obama. Die Erfahrung der ehemaligen First Lady: „Im Kurs lernt man zu erkennen, ob jemand Hilfe braucht, und wie man konkret Hilfe leisten kann.“

Die MHFA-Lizenz für Deutschland hat das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim. Es besteht aus vier Kliniken für psychische Erkrankungen und einer Forschungseinrichtung für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2019 baut das ZI gemeinsam mit der philanthropisch ausgerichteten Beisheim Stiftung ein deutschlandweites MHFA-Netzwerk auf. 

Im Durchschnitt erlebt hierzulande etwa jeder Vierte pro Jahr eine behandlungsbedürftige psychische Störung; betroffen sind etwa 18 Millionen Menschen. Expertenschätzungen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer noch einmal so hoch ist. Zu den häufigsten Krankheiten zählen Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen durch Alkohol und Medikamente. 

Vor allem bei Depressionen und Angststörungen steigen die Fallzahlen, auch unter Kindern und Jugendlichen. „Fast jeder von uns kennt jemanden, der betroffen ist oder es sein könnte. Es wird zunehmend wichtiger, dass es ein Grundverständnis der Bevölkerung für seelische Erkrankungen gibt“, sagt Dr. med. Julia Reiff und fügt hinzu: „Das Ersthelferzertifikat macht niemanden zum Psychiater oder Psychotherapeuten, wie ein regulärer Erste- Hilfe-Kurs niemanden zum Rettungssanitäter macht.“

„Der Kurs soll helfen, psychische Gesundheitsprobleme und Krisen frühzeitig zu erkennen und kompetent zu helfen bis professionelle Hilfe zur Verfügung steht. Ein Ersthelfer ist kein Ersatz für professionelle Diagnostik und Behandlung, doch Basiswissen kann Leidenswege verkürzen und Leben retten."

Können Laien auch Schaden anrichten? Ihre Antwort: „Da muss man sich keine Sorgen machen. Wie bei der körperlichen Ersten Hilfe gilt der Grundsatz, der einzige grobe Fehler ist, nichts zu machen. Sogar eine ungeschickte oder falsche Reaktion ist besser als keine.“ 

Deutschlandweit gibt es derzeit rund 300 Instruktoren und mehr als 22 000 zertifizierte Ersthelfer. Unter anderem lernen sie, was psychische Gesundheit bedeutet, was psychische Störungen sind, welche Erkrankungen und Krisen am verbreitetsten sind, wie man sie erkennt und Hilfe leistet bis professionelle Hilfe verfügbar ist. 

Neben theoretischem Wissen werden konkrete Erste-Hilfe-Maßnahmen erklärt, erlernt und durch praktische Übungen gefestigt. Kursteilnehmer erhalten ein Handbuch, das unter anderem Empfehlungen für Verhalten in Krisensituationen erklärt, und ein Workbook mit Übungen. Nach dem Kurs kann eine Prüfung zum zertifizierten MHFA-Ersthelfer abgelegt werden.

Adressen & Informationen

MHFA-Ersthelferkurse
Teilnehmen können Erwachsene über 18 Jahre. Die 12-stündigen Kurse werden als Präsenz- oder als Onlinekurse in deutscher und englischer Sprache angeboten. Preise legen die Instruktoren fest, sie beginnen ab ca 220 Euro. Firmen, die Angestellte schulen wollen, erhalten individuelle Angebote. Kosten können steuerlich geltend gemacht werden. Weitere Informationen zu Inhalten und Terminen.

MHFA-Instruktorenkurse
Die Kurse wenden sich an Menschen mit einem MHFA-Zertifikat, mit Vorkenntnissen in Psychiatrie oder Psychotherapie und Erfahrungen im Leiten von Gruppenangeboten. Im Einzelfall wird die Eignung geprüft. Die Kosten liegen um 1800 Euro und können unter Umständen als Weiterbildung steuerlich geltend gemacht werden. Weitere Informationen. 

GESUNDHEITSKOMPASS für Wiesbaden listet 
Notrufnummern und Notdienste 

+ regionale Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen (psychische Beschwerden und Erkrankungen)

+regionale Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen (Konsumverhalten und Sucht)

+überregionale Anlaufstellen

SELBSTTESTS und Präventionsberatung bietet der Gesundheitskommpass für

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+ Konsumverhalten und Sucht