Aufwind e.V. in mymedaq Magazin

© Verein Aufwind! Wiesbaden e.V.

"Wahrheit ist unsere stärkste Waffe"

Kinder krebskranker Eltern tragen schwere Lasten. Sabine Brütting, Therapeutin beim Verein Aufwind! e.V. Wiesbaden (siehe Foto unten), kann sie ihnen nicht abnehmen. Aber sie kann Fragen ehrlich beantworten und eine Verschnaufpause anbieten, um Gefühle und Gedanken zu klären – und ihnen dadurch helfen, den Weg ein wenig erleichtert zu meistern

Die Angst hat fünf Köpfe und Fangarme wie ein Krake, sie ist ein rabenschwarzes Monster. Die siebenjährige Johanna* kann ihm nicht entkommen. Es hockt auf ihrem Kopf und knurrt und faucht.

„Johanna ist durch ihre Angst stiller geworden", sagt die Mutter. „Wir versichern ihr immer wieder, dass alles gut werde. Und es stimmt, meine Prognose ist sogar sehr gut, die Operation war erfolgreich, die Chemo wirkt. Aber sie scheint uns nicht zu glauben. Können Sie ihr das erklären? Können Sie ihr und uns helfen?“

Anrufe wie dieser sind Sabine Brüttings Alltag. Die Gestalttherapeutin und Pschoonkologin, spezialisiert auf seelische Auswirkungen einer Krebserkrankung, ist Beraterin bei Aufwind! e.V.. Sie ist die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin im Wiesbadener Verein, der seit 2017 Kindern, jungen Erwachsenen und ihren Familien hilft, die Krankheit zu verstehen und mit den Folgen zu leben.

Gegründet haben ihn Krankenpfleger*innen, Ärzt*innen, Berater*innen und Psychoonkolog*innen wie sie selbst, die in ihrem Beruf immer wieder erleben, dass sich mit der Diagnose Krebs ein Schatten über die Kindheit legt, den die Eltern allein nicht immer vertreiben können.

Sabine Brütting kann Johanna und ihrer Familie helfen: Von dem Monster auf dem Kopf erfahren die Eltern erst, als die Tochter von der Beratung bei Aufwind kommt. Sie hat es Sabine Brütting detailliert aufgemalt. Dann hat sie es ausgeschnitten, um es für alle Zeit wegzusperren. Aber wo? Gemeinsam mit der Therapeutin hat sich das Kind einen ausbruchssicheren Ort überlegt: das Eisfach.

Sabine Brütting, Therapeutin beim Verein Aufwind e.V. Wiesbaden im mymedaq Magazin
Monsterchen Selbsthilfegruppe Aufwind im mymedaq Magazin

Daheim hat sie mit Hilfe der Mutter das Papier in den Eiswürfelbehälter gestopft, ihn mit Wasser gefüllt und ihn in die hinterste Ecke des Gefrierfachs geschoben. Hin und wieder schaue Johanna nach, ob das Monster noch gefroren sei, sagt die Mutter, als sie sich für die Hilfe bedankt und berichten kann: „Johanna ist wieder unbeschwert, fast wie vor meiner  Erkrankung.“

Bis auf wenige Ausnahmen sind es immer die Eltern, die sich an "Aufwind! e.V." wenden. Ein Anruf genügt, eine kurze Schilderung der Situation. „Wir brauchen keine Krankenunterlagen, keine Formulare. Unser Angebot ist niedrigschwellig und gratis für die Familien“, sagt Sabine Brütting.

Der Verein finanziert sich durch Spenden und Beiträge, 30 Euro pro Jahr kostet die Mitgliedschaft, und für Kurse zur beruflichen Fortbildung fallen Gebühren an. 20 Familien kamen im ersten Jahr, im zweiten waren es bereits doppelt so viele. Bedingt durch Corona sind es 2020 weniger: Gruppentermine sind abgesagt und viele Familien minimieren Außenkontakte; Krebspatienten haben ein geschwächtes Immunsystem und eine erhöhte Ansteckungsgefahr.

Eine Vierzehnjährige habe sich nach der Diagnose des Vaters geweigert, zur Schule zu gehen. „Die Eltern haben sie zu uns geschickt, weil sie dachten, die Ursache wäre ein rein seelisches Problem“, sagt Sabine Brütting. Das Gespräch hat jedoch ergeben, dass die Angst der Schülerin handfest begründet und berechtigt war. Sie wollte sich im Klassenraum nicht infizieren und den Vater gefährden. Die Lösung war einfach: Nach einem Gespräch mit der Lehrerin bekam sie einen besondern Platz mit großem Abstand zu den Mitschülern. Und diese zeigen seither Verständnis, dass sie ihren Mundschutz auch dann trägt, wenn es nicht vorgeschrieben ist.

Angst ist ein häufiges Problem der Kinder, und gegen Angst helfen Information und Wissen: „Ich ermutige die Eltern, die Wahrheit zu sagen und Fragen der Kinder klar und offen zu beantworten. Wer eine Komplizin im Verbergen sucht, kommt gar nicht erst zu uns“, sagt Sabine Brütting. Ihr Credo: „Die Kinder müssen wissen, ob es Hoffnung gibt oder ob der Tod unvermeidbar ist. Wer sie belügt, auch wenn es gut gemeint ist, riskiert, nachhaltig das Vertrauen zu verlieren.“

Neben Angst, ist Wut eine häufige Reaktion auf den Krebs der Eltern: Was für eine Ungerechtigkeit, was für eine Gemeinheit! Warum trifft es ausgerechnet uns? Viele, vor allem jüngere Kinder, suchen Gründe bei sich selbst und entwickeln Schuldefühle: „Papa hat Krebs, weil er immer so doll mit mir rumgetobt hat“, habe eine Fünfjährige geglaubt, die bisher jüngste Klientin; die älteste war 23.

„Wir weisen niemanden ab, nur weil er eine Altersgrenze überschritten hat", sagt Sabine Brütting. Einmal, fünfmal, wöchentlich, monatlich, die Frequenz der Besuche sei so unterschiedlich wie die Diagnosen und die Familiensituationen. „Wir sind da, wenn die Kinder uns brauchen. Allerdings können wir eine gegebenenfalls notwendige regelmäßige Therapie nicht ersetzen, sondern allenfalls dazu anregen oder sie ergänzen.“

In seltenen Fällen macht Sabine Brütting Hausbesuche, in der Regel kommen die Kinder nach Vorgesprächen mit den Eltern zu ihr, und zwar allein. Was willst du mir heute erzählen oder was ist passiert seit dem letzten Treffen? Mit diesen Fragen beginnt häufig die Beratung. Nicht selten ist der Krebs scheinbar nur ein Nebenthema: „Es kann auch der Streit mit der Freundin im Vordergrund stehen, doch es geht immer um die Gefühle. Wir sind ein geschützter Raum, in dem die Kinder sie zeigen und einfach nur Kinder sein dürfen“, sagt die Therapeutin.  

„Vielen Eltern ist gar nicht bewusst sei, wie tapfer ihre Töchter und Söhne sind und welche Lasten sie tragen“, erklärt sie. Die meisten, auch die Kleinen, ließen sich nämlich möglichst nichts anmerken von ihren Sorgen und Nöten, um die Familie nicht zusätzlich zu belasten. Viele ziehen sich zurück oder wirken nach außen unberührt: „Bei Aufwind können sie weinen und wütend sein, alle Fragen stellen, aber auch lachen, plappern, spielen und Spaß haben, ohne schlechtes Gewissen.“

*der Name ist geändert

Buchtipps zum Thema Kinder und Krebs im mymedaq Magazin

Bücher, die Kindern helfen, mit der Krebsdiagnose der Eltern zu leben

Der Chemo-Kasper. Mit der spannenden Jagd auf böse Krebszelle erklärt das Bilderbuch von Helle Motzfeld Kindern im Grundschulalter, wie die Krankheit entsteht und Chemotherapie wirkt. Herausgeber sind die  Deutsche Krebsstiftung und Deutsche Leukämie-Forschungshilfe, 3 Euro, in vielen Sprachen

Wie ist das mit dem Krebs? Wie entsteht ein Tumor? Wie kann man ihn bekämpfen? Was passiert, wenn wir sterben? Die bildhaften, aber ehrlichen Antworten der Ärztin Dr. Sarah Herlofsen, schön illustriert von Dagmar Geisler, richten sich an Kinder im Grundschulalter. Herausgeber ist die Stiftung Deutsche Krebshilfe. Auf ihrer Site gibt es, neben vielen Informationen, vier Zeichentrickfilme zum Buch, gratis, TB 12,99 Euro 

Was macht der Krebs mit uns? "Kindern die Krankheit ihrer Eltern erklären" heißt Sabine Brüttings anschaulicher Ratgeber für Jugendliche und Erwachsene im Untertitel, der den Inhalt knapp und treffend beschreibt. Balance Buch + Medien Verlag, 15 Euro

Weitere Informationen für krebskranke Eltern

Aufwind! e.V. Wiesbaden
gemeinnütziger Verein
Beratungsstelle
Friedrichstraße 12
65185 Wiesbaden

Tel. 0152 258 29 841
www.aufwind-wiesbaden.de


Deutsches Krebsforschungszentrum (DKZF)
Der Krebsinformationsdienst des DKZF beantwortet Fragen kostenlos.

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