Logo facettenwerk

© Logo und Fotos: facettenwerk, Anette Range (2)

Glänzend integriert

Facetten bringen Mattes zum schillern, und dem Schweren lehren sie das Tanzen. Seit 2019 stellt der Gemeinnützige Verein für Behindertenhilfe Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Kreis e. V. seine Angebote unter der Marke facettenwerk vor. Der Name beschreibt den lebendigen, oft bunten Alltag in den Werk- und Tagesförderstätten, von dem Kerstin Moskon und Tanja Zell erzählen.
weitere Informaionen: www.facettenwerk.de

Alle nennen sie nur das Energiebündel, das nicht stillsitzen kann. Wir haben aber auch sehr ruhige Persönlichkeiten, die erst einmal auftauen müssen, bevor sie ein Wort reden. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unseres Bildungsprogramms ist das ganze Spektrum versammelt. Manchmal sind sie der reine Sonnenschein und manchmal haben sie nur Unsinn im Kopf und können ganz schön nerven“, sagt Tanja Zell (Foto) und fügt hinzu: „Sie sind eben ganz normale Teenager.“

Einige sitzen im Rollstuhl. Andere kommunizieren in ihrer eigenen Sprache. Fast alle leben in einer Welt mit eigenen Regeln und Gesetzen. So kann in einigen der Welten der Zeitstrom schneller und langsamer fließen. Unter der wohligen Dusche verrinnt eine Stunde schon einmal in einer gefühlten Minute. Pünktlichkeit wird dadurch zu einer Herausforderung.

Auch was wir Vorsicht nennen, existiert für einige nicht: Eine junge Frau ist dafür bekannt, dass sie zwar an jeder roten Ampel stehen bleibt, doch bei Grün losgeht, egal, ob ein Auto kommt. Zahllose Beinahunfälle hat sie erlebt, aber ihr Verhalten, bei Grün nicht nach rechts und links zu schauen, ändert sie nicht.

Warum auch? In ihrer Welt gibt es keine Regelbrüche, keine gedankenlose Aggressivität, keine geplante Bösartigkeit. In ihrer Welt verlaufen die Wege geradlinig. Wenn die junge Frau auf Menschen zugeht, dann immer ohne Arglist. Hinterhältigkeiten, Fallgruben und Gemeinheiten existieren nicht.

„Du bist blöd“, hat die inzwischen 24-Jährige als Kind von anderen Kindern gar nicht so selten zu hören bekommen. Immer wieder ist sie auf Streiche herein gefallen. Und hat man sie ausgelacht wegen ihrer Leichtgläubigkeit, dann hat sie mitgelacht, ihr offenes, herzliches Lachen: Denn Lachen ist für sie ausnahmslos ein Ausdruck von Freude und Spaß. „Ich lerne eine Menge über Menschlichkeit, Freundlichkeit, Offenherzigkeit und Empathie von unseren Jugendlichen“, sagt Tanja Zell.

Die studierte Sozialpädagogin ist Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Gesellschaft für Integrationsfachdienste GID gGmbH, einer Tochter des facettenwerks, wie die Werk- und Tagesförderstätten des Gemeinnützigen Verein für Behindertenhilfe Wiesbaden und Rheingau-Taunus- Kreis e. V. seit 2019 heißen. „Wir setzen uns für das Recht von Menschen mit Behinderung ein, sich in Gesellschaft und Arbeitsleben zu integrieren.“ Mit dieser Mission hat der damalige stellvertretende Leiter des Wiesbadener Sozialamts Gerhard Hofmann gemeinsam mit sechs weiteren Gründungsmitgliedern den Verein 1973 gegründet.

Tanja Zell, Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Gesellschaft für Integrationsfachdienste GID gGmbH,

Damals, in den 1970ern, sprach man von Sorgenkindern, wenn von behinderten Menschen die Rede war, oft sogar, wenn sie längst das Erwachsenenalter erreicht haben. Es war auch sprachlich ein langer Weg zur Facette, einem individuellen Teil, der ein Großes und Ganzes zum Schillern bringt und damit alle erfreut und bereichert. „Wir arbeiten immer noch daran, das Denken zu verändern“, sagt Tanja Zell. Dazu veranstaltet der Berufsbildungsbereich mit potenziellen Arbeitgebern, Informationstage und andere Veranstaltungen, die das Bewusstsein für inklusives Denken und Handeln schärfen sollen.

„Sonst wären wir ja alle behindert. Wir alle haben Schwächen, einige können nicht gut sehen, andere sind miserable Läufer, wieder andere können keine grade Note singen“, sagt Tanja Zell. „Wir setzen uns für ein Denken ein, das nicht die Schwächen und Unmöglichkeiten in den Vordergrund rückt, sondern die Stärken und Fähigkeiten. Jede und jeder bringt etwas Einzigartiges mit, etwas, mit dem er oder sie einen Beitrag leisten kann.“

Insektenhotel von facettenwerk

Der Berufsbildungsbereich ist so etwas wie eine Berufsschule, und Tanja Zell ist eine Mischung aus Direktorin, Berufsberaterin, Vertrauenslehrerin. „Wir unterstützen Menschen bei der Planung ihrer Zukunft. Sie sollen herausfinden, was Ihre Interessen und Talente sind und wie sie ihre Ideen und Träume verwirklichen können. Und dabei helfen wir.“

Ein Vierteljahr lang können sich die Teilnehmer*innen orientieren bis sie sich für einen Weg entscheiden. Sie können sich in den unterschiedlichen Werkstätten erproben und haben die Wahl zwischen sogenannten Modulen, einer Grundausbildung in Arbeitsfeldern von Hauswirtschaft über Holz-, Garten-Lagerarbeiten bis zu Bürodienstleistungen. Ein Gastronomie-Modul findet in der Orangerie Aukamm in Wiesbaden statt.

Keramik von facettenwerk

Es gibt ein Atelier, um sich künstlerisch zu erproben und Tagesräume, wie in Breithardt (Foto oben). Hier treffen sich  Menschen, die sozial eingebunden sein und eine Tagesstruktur haben wollen. „Viele von Ihnen sind Schwerstbehindert, aber auch ihnen bieten wir an zu arbeiten, etwas zu malen, zu gestalten oder für Gespräche mit anderen da zu sein“, sagt Tanja Zell.

Keramikarbeiten vom facettenwerk Seit Bestehen des Vereins 1973, schließen etwa 20 Menschen pro Jahr ein insgesamt 27 Monate dauerndes Bildungsprogramm ab. Zur Zeit nehmen 62 an den zahlreichen Angeboten teil, überwiegend jugendliche Absolvent*innen von Förderschulen, aber auch Menschen, die sich erst im höhere Alter entscheiden zu arbeiten. Der an das facettenwerk angegliederte Integrationsfachdienst berät Menschen mit Behinderung in ihren Arbeitsstellen und vermittelt sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Berufliche Entscheidungen müssen von Eltern oder Betreuern mitgetragen werden. Gerade bei den Eltern müsse sie oft Überzeugungsarbeit leisten: „Alle wollen ihr Kind beschützen. Aber dabei gibt es zwei unterschiedliche Ansätze“, sagt sie: „Die einen wollen es vor der Welt bewahren und bauen Schutzräume. Für sie ist es eine Überwindung, die Tochter oder den Sohn für sechs, acht Stunden dem facettenwerk zu überlassen, wo man sich womöglich in einer Werkstatt verletzen könnte“, erzählt Tanja Zell.

Auch liebevolle Vorsicht kann dazu führen, dass Jugendliche sich unterschätzen und sich unsicher fühlen: „Viele entwickeln bei uns Selbstbewusstsein und Stärken, mit denen sie sich selbst und die Eltern überraschen“, sagt Tanja Zell.

Die anderen Eltern wollen ihr Kind vor dem Anderssein schützen und ihm einen regulären Ausbildungsplatz bieten. Selbst wenn es die Herausforderungen meistert, ist der Preis in vielen Fällen hoch: „Viele dieser jungen Erwachsenen sind an der Grenze der Leistungsfähigkeit. Tag für Tag erleben sie, dass sie trotz aller Anstrengungen etwas nicht können oder schlechter als alle anderen. Bei uns erleben viele zum ersten Mal, dass sie die Besten sind. Man kann richtig beobachten, wie sie mit der Zeit unbeschwerter werden ohne permanenten Druck.“

Nach der Bildungszeit finden viele beim facettenwerk eine Stelle. Kerstin Moskon (Foto) ist Leiterin der facettenwerk-Werkstätten in Hohenstein-Breithardt mit derzeit 148 Beschäftigten und in Aarbergen-Michelbach mit 40 Beschäftigten. Zuvor hat sie als Marketingexpertin gearbeitet. Als Werkstattleiterin ist sie zuständig für die wirtschaftliche Seite: „Unsere Betriebe folgen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, das heißt, unsere Beschäftigten erbringen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung. Und die Qualifikationen unserer Beschäftigten sind anspruchsvoll und anerkannt. Unsere Leute können was.“

Sie zimmern die seefesten Kisten, in denen großformatige Gegenstände über den Pazifik und Atlantik verschifft werden. Sie bauen Geräte für HNO-Ärzte. Sie konstruieren Bio-Toiletten für Festivals, Kleingartenanlagen und Privatleute: „Das Produkt ist zur Zeit einer unserer Bestseller, trotz Corona“, sagt Kerstin Moskon im Managerton. Auch die Flaschenspülanlage am Standort Oestrich für Kunden der Region ist ein wirtschaftlicher Erfolg – im Gegensatz zur Metallwerkstatt: „Die werden wir schließen. Wir haben Autozuliefern zugearbeitet. Aber auf dem Gebiet sind wir in Zeiten der Globalisierung und der Umrüstung auf E-Autos nicht mehr konkurrenzfähig.“

„Werkstätten haben immer noch ein angestaubtes Image“, sagt Kerstin Moskon. „Dabei sind sie schon lange keine geschlossenen Orte mehr, die nur mehr Beschäftigung bieten. Ihre Aufgabe ist  vielmehr die persönliche Entwicklung der Beschäftigten, und zwar im ganzheitlichen Sinne, beruflich und privat.“ Seit Bestehen des Vereins spielen gemeinsame Werte eine große Rolle, was sich zum Beispiel in der Verbundenheit zum Betrieb widerspiegelt: Neulich hat ein Beschäftigter 40-jähriges Firmenjubiläum gefeiert.

Keramikherz von facettenwerk

„Unsere Beschäftigten nehmen an Schulungen teil, und es gibt regelmäßige Mitarbeitergespräche, in denen sie uns sagen können, was wir besser machen sollen. Aber es kann auch sein, dass sie konstruktive Kritik vom Gruppen- und Werkstattleiter einstecken müssen“, sagt Kerstin Moskon. „Es geht schließlich auch darum, neue Marktfelder zu erschließen, um auch in Zukunft wirtschaftlich zu bleiben. Das ist unseren Beschäftigten klar.“

Und noch einiges mehr: Am Tag, als der neue Name verkündet und gefeiert wurde, habe ein Beschäftigter sie am Ärmel gezupft und strahlend verkündet: „Du, Frau Moskon, jetzt bin ich eine Facette von dir.“ Ein Satz, der die Welt funkeln lässt. 

Das facettenwerk in Zahlen

Wir setzen uns für das Recht von Menschen mit Behinderung ein, sich in Gesellschaft und Arbeitsleben zu integrieren.“ Mit dieser Mission wurde der Gemeinnützige Verein für Behindertenhilfe Wiesbaden und Rheingau-Taunus- Kreis e. V. 1973 gegründet. Heute ist er der zentrale Teil eines verzweigten Netzes mit Tochterfirmen, deren Ziel die Inklusion ist.
Standorte sind Wiesbaden, Oestrich-Winkel, Breithard und Aarbergen. Staatlich geförderte Programme zur Betreuung, gehören ebenso zu den Angeboten wie Bildung, Beratung, Arbeitsvermittlung und Ausbildungs- und Arbeitsplätze in vielen Bereichen. Die einzelnen Rechtsträger präsentieren sich seit 2019 unter dem Markennamen facettenwerk. Gründungsmitglied Gerhard Hofmann, damals stellvertretender Leiter des Wiesbadener Sozialamts und lange Jahre erster Vorstandsvorsitzender, hat im August 2020 sein Amt niedergelegt. Sein Nachfolger ist Wolfgang Werner, der lange Jahre Gesamtschwerbehindertenvertreter der Stadt Wiesbaden und ehemaliger Leiter des Amtes für Flüchtlinge und Grundsicherung war.
Das facettenwerk hat 150 Mitarbeiter und rund 850 Personen, die betreut oder ausgebildet werden oder in Werkstätten und anderen Einrichtungen arbeiten.
Insektenhotels und Keramikarbeiten, wie wir Sie abgebildet haben, und viele andere handwerkliche und künsterlische Produkte können Sie direkt in den Werkstätten, im Atelier und an Marktständen kaufen; Tassen und Schalen gibt es ab 5 Euro, das Insektenhotel kostet 18 Euro.
Adressen und Ansprechpartner*innen  und ausführliche Informationen: www.facettenwerk.de