Vorstände des Kneipp-Vereins Wiesbaden e.V.: Wilfried Merzbach, Horst Maiwald, Wolfgang Bronz (von li.)

© privat (2); pixabay.com Vorstände des Kneipp-Vereins Wiesbaden e.V.: Wilfried Merzbach, Horst Maiwald, Wolfgang Bronz (von li.)

Wärmelehre nach Pfarrer Kneipp

Der Winter zieht mit 19 Grad in viele Büros und Wohnzimmer ein, und nicht Wenige frösteln trotz dicker Pullover und gefütterten Hausschuhen. Vor rund 180 Jahren hat sich Sebastian Kneipp für Kälte erwärmt, weil sie die Gesundheit stärken und das Wohlbefinden steigern kann. Seither folgen Millionen in aller Welt seinen Lehren. Ein Porträt des Pfarrers und Heilers – und ein winterlicher Spaziergang im Wiesbadener Stadtwald mit den Vorständen des Kneipp Vereins Wiesbaden e.V., der gut gelaunt im eisigen Dernbach endet.
Plus: Kneipp-Anwendungen im Badezimmer, die Beschwerden lindern können und helfen, sich mit niedrigen Temperaturen anzufreunden.

Ahorn, Buchen, Eichen haben auf dem Pfad einenTeppich ausgerollt. Er ist rot und goldfarben gesprekelt und raschelt und mahnt bei jedem Schritt: Vorsicht, rutschig. Vom Chausseehaus in Dotzheim schraubt sich der Waldweg als Tunnel den Hügel hinauf. Stämme und Unterholz bilden zugige Wände, Kronen das löchrige Dach. Es gibt den Blick frei auf graue Himmelsfetzen. Wind besprüht das Gesicht mit Nieselschwaden, den unbarmherzigen Vorboten des Winters.

Es ist ein früher Nachmittag Mitte November. Ein Paar mit zwei Kindern im Grundschulalter taucht hinter einer Biegung auf. Alle vier sind verpackt in Daunenjacken, Fellstiefel und Mützen. Sie haben offenbar das selbe Ziel. „Die perfekte Temperatur für eine Wanderung!“, sagt Horst Maiwald. Die Luft hat keine zehn Grad, gefühlt deutlich weniger.

Er trägt eine leichte Funktionsjacke und -hose, weder Mütze noch Handschuhe, und er lächelt, als blinzele er in die Frühlingssonne. Dabei schreitet er aus, als gelte es, die Familie in Rekordzeit einzuholen. Addiert man deren geschätztes Alter, kommt man in etwa auf seines. Die Nähe zur 80 verrät sich weder durch ein gemächliches Tempo noch einen schweren Atem.

Seit 2011 ist Horst Maiwald Vorstandsmitglied des Kneipp-Vereins Wiesbaden e.V., und er verkörpert das Motto: „aktiv & gesund“. Mitglied ist er seit seiner Pensionierung als Verwaltungsbeamter des Bundeskriminalamts BKA. Seine Frau hat ihn damals mit zu einem Gymnastikkurs genommen, als Therapie gegen die Überdosis Freizeit.

Die meisten der rund 270 Mitglieder sind aus seiner Generation: „Die mit Abstand größte Gruppe bilden Damen zwischen 70 und 90 Jahren.“ Für „Damen und Herren“, so ist im Programmheft zu lesen, sind die Sportkurse des Vereins ausgelegt: Rückengymnastik, Ganzkörpergymnastik, Morgengymnastik, Yoga, Qigong. Mitglieder erhalten Rabatt, willkommen sind alle.

„Wenig mit Freude getan ist mehr als viel, das man meidet.“ (Sebastian Kneipp)

Bewegung ist einer der Schwerpunkte der Kneippschen Gesundheitslehre. Maßvolle Ernährung, seelische Balance und Ordnung, Heilpflanzen und Wasseranwendungen sind die weiteren tragenden Elemente. Begründer Sebastian Kneipp sprach von „fünf Säulen“, auf denen seelisches und körperliches Wohlbefinden basiere.

Der Waldweg führt zu einer Wasseranwendung: zur Wassertretanlange im Wiesbadener Stadtwald. Schilder weisen die Richtung. Etwa 15 gemütliche Minuten dauert der Spaziergang vom Chausseehaus bis zum Ziel, kaum der Rede wert für Horst Maiwald: Einmal pro Woche gehe er einen ganzen Tag lang in Wäldern rund um Wiesbaden wandern, erzählt er, während er die junge Familie freundlich grüßend hinter sich lässt.

Mit zwei Äpfeln als Proviant, mehr brauche er nicht, erklärt er. Sebastian Kneipp würde den Satz mit einem anerkennenden Nicken kommentieren, die buschigen Augenbrauen heben und eine Mahnung hinterherschicken: „Im Maße liegt die Ordnung. Jedes Zuviel und jedes Zuwenig stellt an Stelle der Gesundheit Krankheit."

Sebastian Kneipp ist 1821 im oberschwäbischen Stephansried geboren. Sein Vater ist Kleinbauer. Er bessert die kärglichen Erträge als Weber auf. Im Teenageralter erkrankt Sebastian Kneipp an Tuberkulose, die chronisch wird. 1842 nimmt ein Priester im nahen Dillingen den intelligenten jungen Mann auf, lehrt ihm Latein und ermöglicht ihm den Besuch des örtlichen Gymnasiums. Die Krankheit verschlimmert sich, Ärzte geben ihn auf. Sebastian Kneipp sucht in Büchern nach Rettung.

„Unterricht von Krafft und Würkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ aus dem Jahr 1738 fällt ihm in die Hände. Autor ist der schlesischen Arzt Johann Siegmund Hahn, der sich wiederum auf Pythagoras, Hippokrates und die Römer der Antike beruft: Um die Zeit der Geburt Christi soll zum Beispiel Kaiser Augustus sein Rheuma mit kalten Güssen geheilt haben.

Sebastian Kneipp wagt den Selbstversuch und taucht ab November 1749 dreimal pro Tag für wenige Sekunden bis zum Hals in die Donau ein. Die Beschwerden bessern sich, die Krankheit verschwindet gänzlich. Er studiert Theologie in München und experimentiert weiter mit kaltem Wasser als Therapie. Versuchspersonen für Güsse, Bäder, Wickel sind Kommilitonen und später Mitglieder seiner Gemeinden. Mit Erfolgen, sogar gegen Cholera, die damals wütet, macht er sich als Heiler einen Namen.

1855 kommt Sebastian Kneipp als Pfarrer nach Wörishofen. Kranke aus dem ganzen Land pilgern zu ihm, Tausende pro Jahr. Die Dorfbewohner bauen Gasthäuser, eine Heilanstalt, ein Kurhaus, ein Bad und ein Heim für kranke Kinder. Seine „Fünf-Säulen-Theorie“ macht er mit zwei Büchern bekannt: „Meine Wasserkur“ erscheint 1889, drei Jahre danach „So sollt ihr leben“. Beide Titel sind Bibeln einer weltweiten Bewegung: 1896 ernennt die „Washington Post“ den schwäbischen Wasserdoktor und Erfinder der „Kneipp Cure“ zur drittberühmtesten Persönlichkeit der Welt, nach dem US-Präsidenten Grover Cleveland und Otto von Bismarck, dem ehemaligen Reichskanzler und Begründer des modernen Sozialstaats. 

Der Kneipp-Bund, der sich in seinem Todesjahr 1897 in Bad Wörishofen gründet und nach der Nazizeit wieder auflebt –  in der alle Naturheilbünde gleichgeschaltet wurden –, ist heute ein internationales Netzwerk. Es unterhält Forschungseinrichtungen, Ausbildungsstätten, Kuranlagen, stellt Informationen für Fachleute und Laien bereit. Es ist außerdem der Dachverband der rund 600 Kneipp-Vereine mit insgesamt mehr als 160 000 Mitgliedern in Deutschland. Seit 2015 ist „Kneippen als traditionelles Wissen und Praxis nach der Lehre Sebastian Kneipps“ ein immaterielles UNESCO-Kulturerbe.

„Ich schätze, dass gut die Hälfte unserer Mitglieder keine ausgesprochenen Kneipp-Anhänger sind“, sagt Horst Maiwald. Wie er, sind sie in den Verein eingetreten, um durch Kurse und Wanderungen beweglich und fit zu bleiben oder zu werden, wegen der Geselligkeit  beim Stammtisch oder um Gemüse, Kräuter und Blumen in Bioqualität anzubauen. Der Garten, den der Verein in Bierstadt gepachtet hat, habe den Altersdurchschnitt deutlich gesenkt: „Da machen auch junge Familien mit Kindern mit.“

Die Wassertretanlage im Stadtwald kündigt sich mit einem Plätschern und einem gleichschenkligen, haushohen Dreieck an, dem bodentiefen Satteldach der vereinseigenen Schutzhütte. Darunter und davor stehen Baumstammhocker, Holzbänke und -tische mit Blick auf den Dernbach. Zwei Kilometer entfernt sprudelt er aus der Quelle und eilt über Wurzeln und Steine den Hügel hinunter, bis ein Staubrett und das leuchtend türkisfarbene Betonbassin ihn ausbremsen.

Der Bach ist auch im Hochsommer kühl und versiegt nicht. Etwa vier Kubikmeter fasst das gut knietiefe Becken. Kinder nutzen es in der warmen Jahreszeit zum Planschen. Und Spaziergänger waten darin im Kreis herum, um sich abzukühlen. Ein Metallgeländer bietet Halt. „Die wenigsten sind ernsthafte, regelmäßige Kneipper“.

Jetzt schwimmt Laub im Becken, dunkler Bodensatz hat sich gebildet. Nach Bedarf wird es mit einem Besen ausgefegt. Dazu treffen sich freiwillige Mitglieder des Kneipp Vereins, heute Horst Maiwald und zwei weitere Vorstände: Wilfried Merzbach, Schatzmeister und pensionierter Finanzreferent des Hessischen Städtetags, und Wolfgang Bronz, Schriftführer und Bauingenieur mit Schwerpunkt Wasserwirtschaft im Ruhestand. Als einziger der drei ist er wegen der Lehren Sebastian Kneipps Vereinsmitglied geworden: „Schon als Kind bin ich mit meinen Eltern nach Bad Wörishofen gefahren.“

Vor der Arbeit kommt das Vergnügen: Die Herren ziehen Schuhe und Stümpfe aus, krempeln die Hosenbeine hoch und steigen ins kaum zehn Grad kalte Bachwasser. Der Himmel hat ein Einsehen und klart auf. Im Storchengang, bei dem die Knie soweit angezogen sind, dass die Füße über der Oberfläche zu sehen sind, staken sie hintereinander durch das Becken. Jeder Schritt ist von Prusten, Seufzen, Lachen und Schmerzensrufen begleitet: „Eine Runde genügt mir erst einmal“, so das einstimmige Ergebnis.

„Ein abgehärteter Körper besitzt den größeren Schutz vor den Krankheiten der Seele“ (Sebastian Kneipp)

Einträchtig sitzen die Vorstände auf der sogenannten Pendelbank am Beckenrand. Die Sitzfläche ist hoch genug, dass die Füße baumeln. Es sei wichtig, sie nicht mit einem Tuch abzureiben, sondern das Wasser abzuschütteln und die Haut an der Luft trocknen zu lassen: „Es klingt paradox, aber dadurch werden die Füße schneller wieder warm“, sagt Horst Maiwald. Noch besser sei es, im Anschluss an das Wassertreten durch Gras zu laufen, wie es bei der zweiten Anlage in Wiesbaden in den Aukammtal-Anlagen möglich ist.

Studien belegen, dass kalte Anwendungen wie Wassertreten Gefäße kräftigen, das Immunsystem stärken, Stress mildern und bei entzündlichen Erkrankungen nicht nur vorbeugende Wirkung haben, sondern auch lindern und heilen können. Menschen mit Gefäß- und Herzerkrankungen sollten die Behandlung mit einem Arzt absprechen. „Bei Gesunden kann eigentlich nichts schiefgehen“, sagt Horst Maiwald. “Wem es zu kalt ist, der steigt einfach aus dem Becken.“ Frauen seien übrigens wesentlich kältetoleranter als Männer, so seine Erfahrung.

Herrlich sei es, die Schuhe wieder anzuhaben und das warme Gefühl zu genießen, das sich im ganzen Körper ausbreitet: „Ich fühle mich total erfrischt“, sagt Horst Maiwald und alle stimmen zu. Als die Familie die Anlage erreicht, haben sie das Wasser abgelassen. Die Kinder sind enttäuscht. Die Mutter schlägt vor, die 20 Minuten zu warten, bis das Bassin wieder vollgelaufen ist: „Wir probieren es mal aus“, sagt sie und fügt hinzu: „Wie schön, dass es einen Verein gibt, der das so unkompliziert möglich macht.

ADRESSEN UND WEITERE INFORMATIONEN
Kneipp-Verein Wiesbaden e.V.: Programm, auch als Broschüre zum Downloaden, Geschichte und Arbeit des Vereins, Mitgliedschaften u.v.m

Kneipp-Bund: Geschichte und die Lehre, Online-Shop, auch mit gratis-Artikeln wie der Broschüre „Das kleine Kneipp 1x5“ als Download u.v.m.

Kneipp GmbH: Produkte, Lehre und kostenlose Downloads, darunter die Bücher Sebastian Kneipps im pdf-Format „Meine Wasserkur“ und „So sollt ihr leben“

Verband Deutscher Kneippheilbäder und Kneippkurorte: Adressen, Geschichte des Kneippens u.v.m.

Wassertretanlage im Wiesbadener Stadtwald des Kneipp Vereins Wiesbaden e.v.
©pixabay.com; Heilkraft des kalten Wassers

 

5 x Kneippen im Alltag

Sie neigen zum Frösteln? Mit kaltem Wasser und einer Portion Selbstüberwindung können Sie sich abhärten, Ihr Immunsystem auf Trab bringen, den Blutdruck regulieren und von weiteren heilsamen Effekten profitieren*.

1 Kalter Knieguss

Idealtemperatur: 10 bis 14 Grad Celsius.
So geht´s: Der Oberkörper sollte bekleidet sein, die Füße warm. Führen Sie den Duschstrahl vom rechten kleinen Zehn über die Wade zur Kniekehle. Fünf Sekunden dort mit Kreisbewegungen halten und über die Innenseite des Unterschenkels bis zur Ferse. Am linken Bein wiederholen.
Danach danach den Strahl vom rechten kleinen Zeh über die Außenseite des Unterschenkels bis zum Knie führen, fünf Sekunden mit kreisenden Bewegungen dort verweilen und ihn an der Innenseite des Unterschenkels abwärts führen. Am linken Bein wiederholen.
Rechte und linke Fußsohle abgießen, Wasser abstreifen und warme Socken anziehen – oder direkt ins Bett gehen. Der Guss wirkt auch als Einschlafhilfe
Bitte nicht: bei Nieren- und Blasenproblemen oder weitermachen, wenn die Haut sich blau verfärbt, Röten ist normal.
Bewährt gegen: Kopfschmerzen, Bindegewebsschwäche, müde Beine. 

2 Wechseldusche

Idealtemperaturen: angenehm warm bis unangenehm kalt, nach individuellem Empfinden.
So geht´s: Genießen Sie eine kurze Zeit Ihre Wohlfühltemperatur. Dann den Strahl vom Körper weg richten, kalt stellen, mit der Hand prüfen, ob die Temperatur erträglich scheint. Den kalten Strahl von der Außenseite des rechten Fußes bis zur Hüfte führen und zurück über die Innenseite des Beins. Links wiederholen.
Dann den Strahl vom rechten Handrücken zur Schulter und Achsel führen und auf der Arminnenseite zurück. Links wiederholen.
Bein- und Armduschen wiederholen. Abtrockenen und den Körper warm halten.
Bitte nicht: bei Erkältungen und anderen fiebrigen Erkrankungen.
Bewährt gegen: Morgenmüdigkeit, Neigung zu kalten Händen und Füßen.

3 Kaltes Armbad

Idealtemperatur: 12 bis 18 Grad Celsius.
So geht´s: Hände und Arme sollten warm sein. Waschbecken füllen, Arme bis Mitte des Oberarms etwa 40 Sekunden lang eintauchen. Möglichst ruhig atmen. Wasser abstreifen, kurz den Nacken mit kaltem Wasser benetzen, warme Kleidung überziehen und die feuchten Arme einige Sekunden lang wie ein Pendel vor und zurück schwingen.
Bitte nicht: bei Herz- und Herzkreislauferkrankungen.
Bewährt gegen: Nervosität, Abgeschlagenheit, Schmerzen u.a. beim Tennis- und Golfarm.

4 Gesichtsguss

Idealtemperatur: 12 bis 18 Grad Celsius.
So geht´s: Gesicht über die Wanne oder das Duschbecken beugen. Duschstrahl sanft ein stellen und von der rechten Schläfe über die Stirn zur linken Schläfe führen und zurück. Dann die rechte Gesichtshälfte dreimal von der Stirn zum Kinn und zurück abduschen. Kurz absetzen und links wiederholen. Ruhig atmen. Wer sich straffe Haut wünscht, sollte den Guss zweimal täglich anwenden.
Bitte nicht: bei Stirn- und Nasennebenhöhlenentzündungen, Augenerkrankungen und Nervenentzündungen im Gesicht.
Bewährt gegen: Müdigkeit, chronische Nasennebenhöhlenbeschwerden, Kopfschmerzen und Migräne.

5 Barfußgänge

Lufttemperatur: bis unter dem Gefrierpunkt.
So geht´s: Starten Sie mit warmen Füßen, und wagen Sie sich als Anfänger nicht direkt aufs Eis oder auf Schnee, der Holz- oder Steinbelag der Terrasse genügt. Etwa 30 Sekunden langsam und bewusst schreiten. Danach warme Socken überziehen und einige Minuten im Warmen in Bewegung bleiben.
Bitte nicht: bei Fieber und Erkrankungen des kleinen Beckens und der Nieren.
Bewährt gegen: Stress, Kopfschmerzen, schwere Beine, Schweißfüße.

WEITERE ANWENDUNGEN FÜR ZUHAUSE bieten u.a. 
Kneipp-Bund
Kneipp GmbH

*Bitte beachten Sie: Kneipp-Anwendungen eignen sich für gesunde Menschen, halten Sie bitte im Zweifel Rücksprache mit Ihrem Arzt. Und, so Sebastian Kneipp: „Ich warne vor jedem zu starken und vor jedem zu häufigen Anwenden des Wassers! Der sonstige Nutzen des Heilelementes kehrt sich in Schaden, das hoffende Vertrauen des Patienten in Furcht und Entsetzen.“