Abb.: grafische Darstellung DiPA

App-Abbildungen: © Adobe Stock

„DiPAs entlasten Pflegebedürftige und das System“

Seit Januar 2022 haben Menschen mit einem Pflegegrad das gesetzlich verankerte Recht auf Nutzung von Digitalen Pflegeanwendungen (DiPAs). Ein Pionier der Anbieter ist die digitale Pflegeplattform HerzBegleiter. Mitbegründerin Gülşen Heinrich (Foto, mit Mitbegründer Thomas Heinrich) erklärt, wie DiPAs funktionieren, wem sie nutzen und was es zu beachten gibt.

Gülsen und Thomas Heinrich -  HerzBegleiter

Fotos:© fizkes/shutterstock; HerzBegleiter

Gesundheitskompass für Wiesbaden: DiPAs sind Apps oder Webanwendungen, die Menschen in ihrem Pflegealltag unterstützen. Was bedeutet das konkret?
Gülşen Heinrich: Unser Produkt bietet zum Beispiel Übungsreihen, die helfen, die körperliche und geistige Mobilität zu erhalten oder zu verbessern. Der pflegerische Nutzen spielt dabei eine große Rolle und ist nachgewiesen worden. Denkbar sind auch DiPAs, die auf bestimmte Gruppen zugeschnitten sind, etwa auf Menschen nach einem Schlaganfall. Eine entsprechende DiPA könnte zum Beispiel Lernvideos enthalten, die zeigen, wie man sich einhändig waschen, anziehen und sich mit einer halbseitigen Lähmung bewegen können.

GfW: Wer hat die Übungsreihen für Ihre Mobiliäts-DiPA entwickelt?
G.H.: HerzBegleiter hat mit Therapeuten, Trainern, Yogalehrern, Coaches und anderen Experten zusammengearbeitet. Bisher haben wir 100 dieser Mitmachkurse als Video selbst konzipiert, mit Filmemachern produziert, und zwar gegliedert nach Übungsreihen im Sitzen, Liegen, Stehen. Neben körperlichen Übungen mit pflegerischen Nutzen bietet unsere DiPA auch 15 Kurse für die geistige Beweglichkeit und für das emotionale Gleichgewicht.

GfW: In der Art von Denksport und Meditationen?
G.H.: Ja, damit lässt es sich vergleichen. Beim emotionalen Gleichgewicht geht um Achtsamkeit, um die glücklichen Momente, die jeder Tag bringt. Es ist nicht einfach, pflegebedürftig zu sein und positiv und offen zu bleiben. Unsere DiPA zeigt Wege auf, wie das gelingen kann.

GfW: Videos und Apps zu Meditationen und Gymnastik findet man zahlreich im Netz. Wie unterscheiden sich diese Lifestyle-Angebote von einer DiPA?
G.H.: DiPAs können, wie unsere App ist, CE-zertifizierte Medizinprodukte sein. Damit erfüllen sie geltende Landes- und EU-Verordnungen zum Datenschutz, zur Datensicherheit, und sie sind gemäß der Medical Device Regulation (MDR), der Medizinprodukteverordnung, geprüft und in Risikoklasse I eingestuft. DiPAs sind wegen der Anforderungen an den pflegerischen Nutzen keine Lifestyle-Angebote.

GfW: Sind DiPAs also nicht verschreibungspflichtig?
GH: Richtig. Anders als bei einer DiGA, einer digitalen Gesundheitsanwendung auf Rezept, bleiben Ärzte und Ärztinnen bei DiPAs sozusagen außen vor. Die Menschen können sich digitale Pflegeanwendungen auf eigene Initiative oder auf Empfehlung von Pflegeberatern, Pflegediensten, oder Pflegekassen nutzbar machen.

GfW: Wo findet man DiPAs und wie bekommt man sie?
G.H.: DiPA-Apps und Webanwendungen kann man entweder auf der Seite der jeweiligen Hersteller herunterladen oder in den App-Stores für Apple- und Android-Geräte. Geplant ist ein digitales Verzeichnis auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wie es bereits für DiGAs existiert. Für DiPAs ist damit jedoch frühestens im Sommer 2022 zu rechnen.

GfW: Die DiPA-Apps sind in der REgel erst einmal kostenlos? Doch um sie nutzen zu können, muss man sie kostenpflichtig freischalten. Wie geht das?
G.H.: Wenn man einen Pflegegrad hat, läuft das über die Pflegekassen. Man füllt ein Online-Formular aus, das sich in der App oder auf der Seite des Anbieters findet, und versendet diesen Antrag auf Nutzungsgenehmigung an die Pflegekasse. Dann bekommt man einen Schlüssel-Code als Genehmigung zugeschickt, den man einmalig eingeben muss, und das war es schon! Beim Ausfüllen, Einreichen und Code-Eingeben sind wir für unsere DIPA auf Wunsch gern behilflich.

GfW: Hat man einen Pflegegrad, übernehmen die Pflegekassen die Kosten für DiPAs, bis zu 50 Euro pro Monat. Wird dabei geprüft, ob die Anwendung für den Antragsteller wirklich sinnvoll ist.
G.H.: Nein, so eine Überprüfung ist nicht vorgesehen. Pflegebedürftige können DIPAs nach eigenem Ermessen auswählen und nutzen. Es soll möglicherweise eine Bestätigung der Sinnhaftigkeit durch Pflegeberater geben, was aber noch nicht abschließend geregelt ist.

GfW: Können Menschen ohne Pflegegrad DiPAs kaufen?
G.H.: Ja. Sie müssen dann natürlich keinen Antrag stellen, sondern wir als Hersteller schalten die Anwendung frei. Die Kosten für unsere DiPA betragen 50 Euro pro Monat, und zwar für Pflegekassen wie für Selbstzahler.

GfW: Wie lange bezahlen die Pflegekassen eine DiPA?
G.H.: Die Nutzungsdauer ist nicht befristet, da auch kein medizinisches Therapieziel erreicht werden soll. Sollten Pflegebedürftige jedoch feststellen, dass Ihnen die DiPA nichts bringt, können sie diese natürlich auch wieder abbestellen.

GfW: Was wirkt, hat Nebenwirkungen. Sollte man darum lieber einen Arzt befragen, ob eine DiPA persönlich in Frage kommt?
G.H.: Einen Arzt zu konsultieren, ist immer empfehlenswert. Allerdings kennen sich bislang wenig Ärzte mit DiPAs aus, denn digitale Produkte sind noch neu. Wer sich für DiPAs interessiert, kann das Thema bei einer Pflegeberatung ansprechen. Auch dazu bieten wir Termine an, die für Menschen mit Pflegegrad und für Pflegende von den Pflegekassen bezahlt werden.

GfW: Wieviele DiPAs gibt es bisher?
G.H.: Das für das Zertifizierungsverfahren zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist aktuell überlastet. Viele Zulassungsverfahren sind darum noch nicht abgeschlossen. Auch ist die sogenannte Durchführungsverordnung noch nicht fertig, die unter anderem die Kostenübernahme durch die Pflegekassen regelt. Bisher sind wir der einzige Hersteller, der bereits auf dem Markt ist und formal die gesetzlichen Anforderungen erfüllt. Aber bis zum Sommer wird sich einiges tun.

GfW: Das heißt, Sie treten bisher bei den Pflegekassen in Vorleistung.
G.H.: Ja genau. Unseren Kunden entsteht dadurch jedoch kein Nachteil. Sie brauchen auch nicht zu befürchten, dass sie eventuell etwas nachzahlen müssen. Das Recht auf Nutzung einer DiPA haben sie bereits heute, und wir setzen das Gesetz um. Von staatlicher Seite aus gibt es eher zögerliches Abwarten.

GfW: Wer hat einen aktuellen Überblick über DiPAs, die auf dem Markt sein werden, bevor es das zentrale Verzeichnis beim Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt?
G.H.: Bis zum Sommer kann man sich mit dieser und anderen allgemeinen Fragen zu DiPA am besten an die Pflegekasse wenden.
 
GfW: Welches Gerät braucht man für eine DiPA, reicht ein Handy?
G.H.: Genau, wenn es internetfähig ist. Wir empfehlen aber ein Tablet, einen Laptop oder PC, also Geräte mit einem größeren Bildschirm. Damit sind DiPAs leichter und komfortabler zu nutzen.

GfW: Die digitale Pflegeanwendung funktioniert aber auch ohne Internet, oder?
G.H.: Bei unserer DiPA brauchen Sie das Internet nur, um die App zu installieren und sie einmalig freizuschalten. Unsere Clips laufen auch offline. Das vereinfacht die Nutzung für die Kunden.

GfW: Darf man die digitalen Anwendungen offiziell teilen, also die Übungen vor dem Bildschirm gemeinsam mit anderen Menschen machen?
G.H.: Ja, das ist erlaubt und oft sogar sinnvoll! Das Recht auf DiPA-Nutzung haben zwar ausdrücklich nur die Pflegebedürftigen, aber in vielen Fällen sind auch die pflegenden Angehörigen nicht mehr jung und deshalb in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Sie sind herzlich eingeladen, mitzumachen, um eigener Pflegebedürftigkeit vorzubeugen. Mobilität ist Lebensqualität!

GfW: Der pflegerische Nutzen erhöht sich ja vielleicht sogar, wenn man in einer Gruppe übt.
G.H.: Richtig! Weder Gesetzgeber noch Hersteller haben etwas gegen private DiPA-Treffen einzuwenden. Gemeinsam aktiv zu sein, kann Pflegebedürftige motivieren und ihnen Freude bereiten. Beides hat durchaus auch einen pflegerischen Nutzen. Und es bietet sich eine wunderbare Möglichkeit, gegen Einsamkeit etwas Sinnvolles zu tun.

GfW: Wie hoch ist das Risiko, dass sich die Mobilität durch Ihre DiPA verschlechtert, etwa durch eine Verletzung?
G.H.: Bei einem Medizinprodukt der Risikoklasse eins ist das Risiko sehr gering. Unsere Übungsreihen sind so ausgelegt, dass Verletzungen nahezu unmöglich sind. Natürlich lässt es sich nicht völlig ausschließen, dass jemand mit dem Fuß umknickt oder vom Stuhl rutscht. Aber jede Alltagssituation hält minimale Risiken bereit.  

GfW: Der Gesetzgeber hat ein Interesse daran, Pflegebedürftigen den Alltag zu erleichtern, auch, damit sie länger zuhause wohnen und länger in einem niedrigen Pflegegrad bleiben können.
G.H.: Genau, das sind auch die gesellschaftlichen Ansprüche an DiPAs. Sie tragen zur Entlastung der Gesundheits- und Pflegehaushalte bei. In Zukunft wird diese Ressourcen-Orientierung noch wichtiger werden. Heute leben 4,5 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, 3,6 Millionen werden zuhause versorgt. Nach Hochrechnungen werden 2030 bereits mehr als 6 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein. Je weniger in ein Heim müssen, desto besser für die Menschen und für die Pflegekosten.

GfW: Frau Heinrich, vielen Dank für das Gespräch!


Mehr Informationen zu DiPAs

Über Ansprüche für Menschen mit Pflegegrad informiert das Bundesgesundheitsministerium
Allgemeines und gesetzliche Grundlagen finden sich auf dem Portal zu den Themen Wohnen und Leben im Alter in Deutschland www.pflege.de 
Beim  Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V. (SVDGV) gibt es ein ein Positionspapier zur DiPA
Der SVDGV bietet außerdem ein Verzeichnis der Produkte seiner Mitglieder, darunter auch Angebote für pflegende Angehörige und für die stationäre Pflege, die bisher nicht unter die DiPA-Gesetzgebung fallen, auf der Seite Digital versorgt

Über HerzBegleiter
​​​​​​​2021 haben Gülşen und Thomas Heinrich das Unternehmen HerzBegleiter gegründet und die weltweit erste digitale Pflegeplattform Smart Care Assistant marktreif entwickelt. Seit 2022 ist die erste zertifizierte DiPA von HerzBegleiter auf dem Markt. Gülşen Heinrich ist gelernte Krankenschwester und hat lange Jahre als Pflegedienstleitung und Pflege-Unternehmerin gearbeitet.Thomas Heinrich ist Betriebswirt, war fast 30 Jahre lang Manager bei Privaten und öffentlichen Pflegeanbietern. Er leitete u.a. ein Forschungsprojekt KI in der Pflege im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Mehr Informationen zu HerzBegleiter.